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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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Potenz ihrer Stimmbänder ab. Da vergaß Leda ihre Erschöpfung, und bald schon sang sie die Refrains mit. Aljoscha hoffte, daß diese Sänger nicht den Sonnenuntergang besangen.

7
    Sie verließen Florenz und fuhren nach Ripa. Dort, am Rande der Abruzzen, lebte ihre Freundin Sonja in einer dörflichen Idylle, die wie alle Idyllen ihre steinharten Seiten hatte. Sonja kannte Leda und Aljoscha seit der Schulzeit und hatte die Geschichte der beiden manchmal besser, manchmal weniger verstanden – so wie man einen Fluß eben verstehen kann, ohne dessen Wasser zu sein. Vor ein paar Jahren war Sonja nach Italien ausgewandert und bewohnte nun ein kleines Haus mit Katzenvolk und Kräutergarten. Leda hatte bereits Ferien hier verbracht. Aljoscha nicht.
    Denn sie schätzten eigentlich nicht dieselbe Art des Reisens. Aljoscha liebte es, auf periphere Patrouillen zu gehen. Er nahm den Zug in eine Stadt, um in ihren Organismus einzudringen und zwei, drei, vier, fünf Tage in seinen Blutbahnen zu treiben, dann wieder Passagier zu sein in einem Zugabteil, diesem stetig dahingleitenden Stück Raum, in dem man sich zur bloßen Vorstellung verflüchtigt, und sich dann in einer anderen Stadt wiederzufinden und den einen Platz, den einen Anblick zu suchen, der ihn die Arme um die Welt schlingen ließ – auf den Mauern eines alten Festungswalls, Steinthron eines Sommerabends, wo er auf drei Kirchtürme herabsah und tief unter ihm die Glöckner und ein Vogelbataillon zu Werke gingen und neben ihm die Salamander in die Ritzen krochen, aus denen Stimmen drangen; oder durch die Stille im Kreuzgang eines Klosters, die das Summen der Insekten zeitlich zu entfernen schien; oder in irgend einer Seitengasse durch den Widerschein von Leuchtreklame auf einem Gesicht, dessen Schönheit aus dem Kampf gegen zerbrochene Illusionen bestand; oder durch die Spuren von Lippenstift auf dem Grabstein eines Dichters. Er war unbrauchbar für Liegestuhl und Hängematte, und er hatte einmal halb Europa abgesucht wie einen Hinterhof, in gerammelt vollen und unwirklich leeren Nachtzügen die Träume von Geheimagenten träumend. Wie sagt Majakowski in Christophor Kolumbus: „Vollmonde schrumpfen auf Maste gespießt.“
    Sehnsucht nach Leda war dann seine bittersüße Weggenossin, das Vermissen tönte die Wahrnehmung und färbte das Kleid der Tage. Er war zugleich verloren und aufgehoben in der Welt, so wie in der Spelunke in Boulogne, als er einen Brief an Leda schrieb und die Wirtsfrau plötzlich das Bedürfnis hatte, den jungen Fremden aufzumuntern, der da in ihrer Bar sein Briefpapier mit Seufzern füllte; sie kannte ja dasalles, sie wischte die Tische so resolut, wie sie in jedem Sachverhalt klar Schiff machte, so war das Leben, so war die Liebe, die sie ihm erklärte, auf Französisch, er verstand kaum ein Wort und wußte doch, daß die Frau mit allem recht hatte, schon weil der Klang des Französischen so unglaublich recht hat.
    Aber zugleich war diese Art des Reisens wie eine Pilgerfahrt in ein abgewöhntes Vorleben: es hieß, wieder ohne Zugehörigkeit zu sein, immerzu verlassend, immer weit entfernt, voll ungesungener Hohelieder, umgetrieben durch den Traum von der einen und einzigen Schönheit, auf der Suche nach dem Echo eines Echos. Reisend, einem Fernweh folgend, das eigentlich ein Heimweh nach Heimweh war, spielte Aljoscha eine Wiederholung seiner selbst als Ankömmling zu jeder Zeit, und das war möglich eben dadurch, daß es Exkursionen mit strengem Über-Ich und Rückfahrkarte waren. Nicht, daß er das Schöne, wie der Melancholiker, als verflossene Braut ansah, aber dies waren Reisen zurück in die Zeit, die noch ohne Rätsels Lösung war, in die Zeit, als man das Schicksal wissen ließ: ich bin bereit, wenn du bereit bist.
    Die Tage in Ripa waren lang und staubig. Eines von Sonjas Kätzchen war krank geworden; tapfer schleppte es sich durch die Stunden, schien manchmal neue Kraft zu finden, und zwei Tage gab es Hoffnung für das Tier. Am dritten Tag grub Aljoscha in der Mittagshitze ein Grab. Erde zu schaufeln für das, was Lebewesen war und nicht mehr ist; den Ort zu bestimmen, an dem ein starr gewordener Körper in geologische Schichten eingeht: so unbegreiflich das an sich schon war, machte doch vor allem dies Aljoscha etwas kopfscheu, daß es ausgerechnet eine Katze war, die er begrub. Es sah verdächtig nach Zeichen aus, und es war nicht nötig, ihm Zeichen dieser Art zu geben. Es war weiß Gott nicht nötig, extra eine Katze sterben zu

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