Aljoscha der Idiot
jetzt achtsam deinen Sinn auf meine Gebote. Du wirst entschieden daran denken und es immer tief im Herzen geborgen halten, daß mir der fernere Verlauf deines Lebens bis auf den letzten Atemzug verpflichtet ist.
Es war Montag. Hellichter Tag, 20. Jahrhundert. Temperatur 10 ° Celsius. Wenn Galaxien Moleküle sind, dann sind Jahrhunderte Sekunden. Lucius wird rückverwandelt, und ein Isispriester spricht zu ihm:
Viele und mannigfache Leiden hast du überstanden, um nun endlich zum Altar der Barmherzigkeit zu kommen. Jene, die unsere erhabene Göttin zu ihrem Dienst erkoren hat, stehen außerhalb des feindlichen Zufalls. Du bist in den Schutz einer sehenden Gottheit aufgenommen.
Zeit vergeht, Zeit macht nicht halt, Zeit läuft ab, Zeit bleibt nicht stehen, die Zeit drängt, drängelt von hinten, will vorbei an einer Existenz, die da im Wege steht. Zeit fließt in eine Richtung. Geht sie in meine Richtung?
Mach nun ein fröhlicheres Gesicht, wie es deinem weißen Gewand entspricht.
Aljoscha trug ein weißes Hemd und eine weiße Seemannshose. Mit rapiden Augenbewegungen forschte er, ob sich womöglich jemand grinsend nach ihm umdrehte. Vielleicht war das hier kein Hörsaal. Vielleicht saß er im Theater des Kollektiven Unbewußten, und die Archetypen gaben hier ein Sondergastspiel nur für ihn.
Begleite den Festzug deiner göttlichen Erlöserin mit frohlockendem Schritt. Damit du jedoch sicherer und geschützter bist, melde dich sofort zu diesem heiligen Dienst, weihe dich schon jetzt dem Gehorsam und nimm freiwillig das Joch der Dienstbarkeit auf dich. Denn wenn du begonnen hast, der Göttin zu dienen, dann wirst du erst recht den Genuß deiner Freiheit spüren.
Ich bin nicht bereit, dachte Aljoscha. Ich bin nicht bereit für diese Dinge. Und darum sprach Lucius:
Ich bin zu schwach, dein Lob zu singen, und zu gering an Vermögen, dir Opfer zu bringen. Es gebricht mir an Worten, um zu sagen, was ich über deine Herrlichkeit empfinde, ein tausendfacher Mund vermag es nicht… also will ich erreichen, was ein Frommer, jedoch Armer, vermag. Dein göttliches Antlitz und Dein heiliges Wesen will ich stets im Innersten meines Herzens bewahren und mir vor Augen halten.
Zeit ist ein Fluß. Sind wir im Fluß oder sind wir am Ufer? Zeit ist ein Fluß, weil die Menschen sich erinnern können. Zeit ist ein Fluß, wenn wir am Ufer stehen und die Augenblicke flußabwärts treiben sehen. Zeit ist ein Fluß, weil man nichts ein zweites Mal erlebt. Zeit ist ein Fluß, wenn wir im Fluß sind und nichts erleben, was man nicht erleben kann, weil der Fluß noch nicht dort angekommen ist, wo das Erlebnis sein wird. Aber warum las Professor Jelzow diese Worte gerade jetzt, warum, wenn nicht die Zeit ihrem eigenen Fluß enteilt war?
„Wie war das?“ fragte Pjotr.
„Als ob die Zeit sich abgelöst hätte von ihrem eigenen Fließen“, sagte Aljoscha. „Nein, vielmehr, von den Zusammenhängen, die zu ihr gehören! Als wäre die Zeit schon in der Zukunft gewesen und die Zusammenhänge noch nicht. Und dann kehrte es sich um, die Zeit war wieder in der Gegenwart, und die Zusammenhänge waren zukünftig! Nein, ich meine, es war alles schon da, verstehst du, die Zeit hatte die Zusammenhänge schon aus der Zukunft geholt!“
„Welche Zusammenhänge denn?“
„Na, die Konstellation, die – die – erst noch kommt!“
„Beim Scheitan! Ich fresse einen Besen, wenn das nicht das Werk der Sphinx ist! Wiewohl der Sinn deiner Worte mir noch nicht ganz greifbar ist.“
„Wie soll ich es erklären… angenommen, ich werfe einen Ball in ein Amphitheater – “
„Warte, Aljoscha – warte! Ich bin nur ein verwirrter Mann auf einem großen Globus. Mir muß man alles zweimal sagen. Warum wirfst du den Ball in ein Amphitheater ?“
„Das ist jetzt unwichtig! Ich will also den Ball werfen… und ich habe den Ball noch in der Hand, verstehst du?“
„Ja, ja, alles klar soweit.“
„Und zugleich liegt der Ball schon da, im Sand des Amphitheaters! Ich habe ihn noch nicht geworfen, und trotzdem befindet er sich schon dort, wo er landen wird – das ist so, sagen wir, für den zehnten Teil vom zehnten Teil einer Sekunde, aber der Zeitraum scheint unendlich, und alle Zusammenhänge sind klar und deutlich. Und dann kehrt sich alles um, ich werfe den Ball nur noch, weil ich weiß, wo er liegen wird, und daß er dort liegen wird… daß ich das weiß, weiß ich schon nicht mehr, wenn ich werfe. Aber für einen Sekundenbruchteil ist beides
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