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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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wechselten die Farbe.
    „Daß du mitgelaufen bist, beweist, daß es mein Ball ist“, sagte sie.
    „Aber ich war zuerst hier, wie kann es dein Ball sein?“ sagte er.
    „Es ist nicht wichtig, wer zuerst hier war. Wichtig ist nur, daß wir beide hier sind.“
    Ihre Augen blieben blau. Er küßte sie. Er berührte ihre Brüste. Sie schien seine Hände zu führen. Dann aber sagte sie: „Nein, noch nicht! Komm mit mir!“
    Sie liefen mit dem Ball zurück in die Arena. Im ungeordneten Treiben behielten sie sich stets im Auge. Hin und wieder verwarfen sie absichtlich einen Ball, damit sich ein Mauerkorridor öffnete und sie in die Abgeschiedenheit zurückkehren konnten. Ihr Ritual blieb unentdeckt. Nach dem sechsten oder siebten Mal war die Arena leer. Leda hatte Zeichen an den Säulen hinterlassen, doch Aljoscha konnte nicht mehr lesen. Er wachte auf.
    Jeder Dienstag des Wintersemesters begann in rauher Frühe mit einem philosophischen Seminar über Sterben und Tod. War dieses absolviert, lief Aljoscha vom sogenannten Philosophenturm zum Hauptgebäude, um rechtzeitig zum Beginn der Vorlesung über Poussin den Hörsaal C zu erreichen. Danach blieben ihm zwei Stunden Zeit bis zur Nachmittagsvorlesung; diese war um 15 Uhr 45 beendet, so daß Aljoscha gegen 16 Uhr die Metrostation Damtorsk zu erreichen pflegte, von wo aus er mit der Metro in Richtung Putjagora nach Hause fuhr.
    Es war der 11. November, ein kalter Nachmittag. Aljoscha stand im Damtorsk-Bahnhof und wartete auf seine Metro. Er las in einem Buch über Heinrich von Kleist.
    Nach einer Weile blickte er hinauf zu den Vögeln, die in der jugendstilartigen Architektur des Bahnhofs hausten. Sie waren still, so still. Wie ein Bild aus angehaltener Zeit. Wie spät war es eigentlich? Warum stand er denn immer noch hier? Die Rolltreppe ließ Menschen auf den Bahnsteig fließen wie Wasser in einen Stausee. Unterschwellige Spannung machte sich breit. Es kam keine Metro.
    Schließlich waren alle so eng zusammengerückt, daß Aljoscha sich sein Buch kaum mehr vor Augen halten konnte. Dann ertönte aus dem Lautsprecher eine scheinbar unbeteiligte Stimme: „Achtung! Eine Durchsage für Reisende in Richtung Putjagora!“ Eine technische Störung, so die Lautsprecherstimme, war der Grund für die Verzögerung. Die Reisenden wurden gebeten, mit der einfahrenden Metro zunächst zur Station Wolchonka zu fahren und in einen dort bereitgestellten Zug nach Putjagora umzusteigen. Aljoscha glaubte nicht mehr an technische Störungen, nur wußte er das zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
    Unter Geschubse, Gedrängel und Gesumm stieg die Völkerwanderung also in den Metrozug nach Wolchonka. Aljoscha hielt beharrlich sein Buch empor. Hegel, hieß es in der Passage, die Aljoscha wegen des allgemeinen Gepolters zum dritten Male zu lesen gezwungen war, Hegel denunziere den Romantiker, weil dieser statt der geforderten „substantiellen Solidität des Charakters“ ein Gemüt habe. Diese Menschen schwanken, und das macht Hegel zu schaffen. Auch die Insassen des Metrowaggons schwankten. „Nicht nur Hegel“, las Aljoscha weiter, „fürchtet das Gemüt und seine neuen autonomen Kräfte… Goethe fürchtet die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen wie die Pest. Wenn er auf Spuren von Kleist trifft, wird ihm übel.“ Als die Metro Wolchonka erreichte, war auch denen übel, die Kleist nicht fürchteten. Die Spuren, auf die Aljoscha traf, waren unsichtbar.
    Er stieg aus der Metro und befand sich am äußersten Ende des langen Bahnsteigs von Wolchonka. Er hätte auch dort bleiben können. Doch er machte sich auf
    HEADING FOR THE FARTHEST REACHES
    zur anderen Seite. Warum? Weil am anderen Ende des Bahnsteigs weniger drangvolle Enge zu erwarten war? Nein. Weil zu gehen war, ging Aljoscha, sich einen Weg durch hohle Gassen bahnend, vorbei an hundert Menschen, die sich scheinbar unbeteiligt einen Standpunkt von substantieller Solidität gesichert hatten. Dann hatte er das andere Ende erreicht. Und da stand sie. Die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen. SIE.Aljoscha kannte IHREN Namen nicht, doch er kannte SIE, erkannte SIE, sie erkannten sich, buchstäblich und nicht im biblischen Sinne. Niemand hätte Zeuge sein können, niemand hätte vermutet, daß die kaum merkliche Regung auf dem Gesicht der jungen Frau in Verbindung stand mit dem flüchtigen Blick des jungen Mannes, der gute fünf Meter von IHR entfernt stehenblieb, weil eine Eingebung oder eine Erinnerung oder die Stimme der Isis ihm

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