Aljoscha der Idiot
dich liebt, was kümmern dich dann die Sterne?
Eine Frage wie aus Zeiten, an die sich niemand mehr erinnerte.
Komischerweise hatte Aljoscha tatsächlich etwas zu tun. In sieben Nächten schrieb er sieben wirrköpfige Poeme, die er jeweils umgehend an Pjotrsandte. Manchmal hat man einfach das Bedürfnis, aufzuräumen. Mancher bricht dafür mit allen Göttern, mancher ein Nasenbein, mancher einen Bleistift ab. Was bedeutet die Sieben? Sieben Stufen am Tempel Salomos. Sieben Greuel im Herzen des Bösen. Sieben Gedichte, und eines davon hieß Sphinx. Besonders aufgeräumt klang das alles freilich auch nicht.
Pjotr bat derweil um eine Depesche mit Informationen über das Sternzeichen der Waage sowie um eine Einführung in die Symbolik der Tarotkarten. Dieser plötzliche und dramatische Anstieg esoterischer Fragestellungen – Indiz dafür, daß sich bei Pjotr nun endgültig das Unterste zuoberst kehrte – war angefacht durch die Begegnung mit einer Buchhändlerin namens Awdotja am Ende des Regenbogens. Awdotja-am-Endedes-Regenbogens, so hieß die Buchhändlerin. Aljoscha schrieb also einen Kurzbericht über die allgemein verbreitete Praxis, das Sternzeichen der Waage mit der achten Tarotkarte in Verbindung zu bringen, und er hoffte, daß sich zutrug, was diese achte Karte darstellt: Ausgleichung. Nemesis. Nemesis ist die griechische Göttin des rechten Maßes. Sie überwacht die rechtmäßige Verteilung des den Menschen Zustehenden. Sie schmiedet kosmische Fünfjahrespläne, straft die Verletzung der Ordnung aller Dinge, rächt die Anmaßung und kennt das Muster, das alles mit allem verbindet. Hesiod nennt Nemesis eine Tochter der Nacht. Altes russisches Sprichwort: Was du am Tage angerichtet hast, wird von der Nacht gerichtet. Ein jeglicher wird seinen Lohn empfangen. Zwischen den Tiefschlafphasen.
Winter, Zeit der Zeichen, kam mit Macht. Die Zeichen der Zeit ließen das Semester für Aljoscha mit einer Vorlesung in Kirchengeschichte beginnen. Denn immerhin, Aljoscha liebte schaurige Gotik, mochte Jeanne d’Arc und den heiligen Sebastian, hatte eine Schwäche für Botticelli-Madonnen, interessierte sich für Ketzer, und er hatte eine Vorliebe für die blaue Fläche im Buntglasfenster über dem Altar des Straßburger Münsters. Die Frage war nur, ob man deshalb auch Kirchengeschichte studieren sollte. Maria Magdalena schwarze Nylonstrümpfe tragen zu lassen, war vielleicht keine gute Referenz in diesen Kreisen. Zudem war Aljoscha der Fall eines Kommilitonen zu Ohren gekommen, der nach zwei Semestern Theologiestudium Atheist geworden war.
Ein erster Versuch im Sommersemester war klar mißraten, als sich ein von abendländischer Selbstgefälligkeit schwer gezeichneter Viersternehotelchrist mit nervösmachender Einseitigkeit über die Konfusion derKonfessionen im Großraum Jerusalem verbreitet hatte, während seine Entourage im Auditorium ein zustimmendes Lächeln beisteuerte, das aus Sanftmut und Hinterlist gemacht schien. Einer lächelnden Gemeinde wie dieser ausgeliefert zu sein, ließ Aljoscha wünschen, er könnte Schwefel spucken. Er verstand nicht einmal, wie eine Gemeinde zustande kam. Wenn er in einer Kirche saß, fühlte er sich immer allein.
Sich der Wirkung von alten Sakralbauten zu entziehen ist eine größere Kunst als die, ihrer Wirkung zu erliegen, gerade in jenen Kirchen, in denen Jesus wüten würde wie einst im Tempel. Der Hall, der aufsteigt in den Kathedralen, verebbt nie ganz, scheint in den Gewölben zu verweilen wie der Wille, daß Etwas nicht zu Nichts wird, und all die Stimmen und Gesänge und Gebete aus allen Zeiten, in denen all die Gotteskinder auf ein Wunder hofften, fragen dich plötzlich, wer du bist, gegen den Wind zu pusten.
Aber die Altäre, das Maßwerk, die Wandmalereien, die Heiligenbilder, die Grabplatten, die vergoldete Pracht, die steingewordenen Phantasien auf den Säulenkapitellen, das roteste Rot der Jesuswunden: Aljoscha sah nirgends den Ausdruck einer gewaltigen Verheißung. Er sah nur die tragische Größe, zu der die Menschen vollkommen verblendet fähig sind, und die vielleicht auch im Fahnenflüchtigen den Wunsch weckt, irgend etwas Gutes anzustellen im Leben, auf diesem nach Gesetzen unbekannten Ursprungs im All dahintreibenden Stück Geröll, auf dem wir alle Lärm machen und Alarm schlagen und SOS funken und um Hilfe rufen, irgend eine verschwindend kleine Änderung an einem verschwindend kleinen Teil des Unermeßlichen, aber weil man gerade aus einem Zustand
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