Aljoscha der Idiot
und Zerknirschungstag, doch Aljoscha bereute nichts. Statt dessen schrieb er alles auf, was sich zugetragen hatte seit dem Tag, an dem SIE ihm zuerst erschienen war. Und weil sich in gewissem Sinne gar nichts zugetragen hatte, schuf Aljoscha sich mit diesen Aufzeichnungen ein Dokument für das, was im Leben nicht bewiesen werden konnte. Er konnte nicht erwarten, sich diesem mysteriösen Reizjemals wirklich hingeben zu können; aber wenigstens auf dem Papier hielt er das Versprechen, das Lucius der Isis gab: IHR göttliches Wesen zu bewahren. Er vermochte es in Schwarz und Weiß, ohne aus dem Strom zu steigen, dem Strom seiner Geschichte, die, bei allen Gedanken verpestet und wirr, seine Geschichte mit Leda sein mußte. Was kein Dasein haben durfte, bekam so immerhin doch Geltung in einem Schriftstück, in einer geschützten Enklave, einem fremdstaatlichen Gebiet im eigenen Staatsgebiet. Während er das Schreibheft mit Worten füllte, die Empfänglichkeit und Abgrenzung zugleich bekundeten, bemerkte er, daß er den Stift so krampfhaft hielt, als wäre seine Hand keine Hand, sondern ein Symptom. Und etwas lief durch die Zeilen wie ein Prophet durch mittelalterliche Gassen und rief: das Ende kommt näher, macht euch bereit!
Aljoscha begann, die Tage von Dienstag bis Dienstag systematisch zu durchkämmen: eine Razzia in der Zwischenzeit. Er war der verdeckteste verdeckte Ermittler, den es gab, aber er hielt Ausschau nach IHR, wo immer er sich befand. Er fing an, gewohnte Schritte umzuleiten in der Hoffnung, daß seine Wege sich mit IHREN kreuzten. So ging er eines Abends Knall auf Fall zu einer Vorlesung über Symbolismus ; er spekulierte, daß dieser Titel SIE womöglich anlockte. Denn schließlich, was ist ein Symbol? Etwas Wahrnehmbares, das für etwas nicht Wahrnehmbares steht. Und außerdem ein Zeichen, dessen Bedeutung alle kennen, die der Sphäre angehören, in der das Symbol erscheint. Es gibt Angehörige von Symbolen, wie es Angehörige eines Totems gibt. Hunderttausende verständigen sich durch Zeichen, die einer beim besten Willen nicht versteht; zwei Menschen verständigen sich durch Zeichen, die von Millionen nicht verstanden werden könnten. Indem das Symbol symbolisiert, macht es klar, daß Etwas immer auch noch etwas anderes ist.
Alles zwischen IHR, der Sphinx, und ihm, Aljoscha, war Symbolismus. Übermittlung von Zeichen, die nur der verstehen kann, der dem Totem angehört. Nur dachte er sich über die Bedeutung dieser Zeichen langsam den Kopf ab. War es da nicht ein logisches Vorgehen, war es da nicht überhaupt eine notwendige Mission, als Erkundungstrupp in allen verfügbaren Symbolismus-Vorlesungen präsent zu sein? Schon beim ersten Blick in IHRE Augen war es ihm ja vorgekommen, als hätte SIE sich nur eines geheimen Erkennungszeichens vergewissert… das war es, ein Totemsymbol, das sie beide kennzeichnete! Wenn er nur wüßte, worines bestand! Vielleicht war die Symbolismus-Vorlesung ein Informant, dem man einen Tip aus der Nase ziehen konnte.
Die Araber sagen, die Katze kennt die Wege der Frau. Vielleicht kannte diese Frau die Wege der Katze. Das Totem schützt seine Angehörigen. Das Totem sendet Orakel. Fangen die Symbole an, sich Menschen zu erschaffen? Gehörte auch er zum Zeichen der Katze? Sagt nicht Majakowski in Die Tropen: „Welches sind Sterne und welches der Mond? Und welches die Augen der Panther?“ Verdammt. Signifikanten und Signifikate gingen sich gehörig an die Wäsche. Aber das war etwas anderes. Wie eigentlich alles. Tuschkin, Sie übernehmen die Symbolismus-Vorlesung. Gehen Sie der Sache nach und klopfen Sie mal auf den Busch. Ich bin sicher, die Symbolismus-Vorlesung weiß mehr, als sie uns sagen will. Fühlen Sie ihr auf den Zahn, Tuschkin. Quetschen Sie die Kleine ruhig aus, aber nicht zu hart anfassen. Sie wissen schon.
Aber SIE war nicht beim „Symbolismus“. Natürlich nicht.
Aljoscha harrte dennoch aus, auch wenn er dasaß wie kurz nach der Vertreibung aus dem Garten Eden, Eva schon mal vorgegangen und außer Sicht geraten. Aber es stärkte ihm den Rücken, von Künstlern zu vernehmen, die sich im Zeitalter der Dampfhämmer und Schornsteine, des Materialismus und des Positivismus ihre Gegenwelt erschaffen hatten – manche, um der Realität zu entfliehen, manche, um gerade die sogenannte „Realität“ als bequeme Eskapade abzutun.
Leda würde sich über seinen Studieneifer wundern. Daß er nun auch Abende an der Universität verbrachte: sehr merkwürdig. In
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