Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
legte mir ihr Gipsbein auf den Tisch und bat mich, es zu signieren. - Wenn’s weiter nichts ist! Büromaterial gekauft, Karteikarten, Register und Disketten: 97,57 DM.
    Peking: Per Telefon werden unglaubliche Berichte abgegeben. Dabei erscheint das Stand-Foto des Reporters auf der Mattscheibe. Man müßte die Lippen auf Standfotos durch einen Trick bewegen und die Augenlider ab und zu heben und senken.
    Man wundert sich, daß in all dem Durcheinander das Telefon noch funktioniert. - Auch in Usbekistan 50 Tote, da können sie sich mit den Mescheten nicht vertragen. Ich will mal sagen, wenn bei uns die Ausländerfeindlichkeit solche Ausmaße annehmen würde … Polizisten mit Plastik-Schutzschilden, wie bei uns, mittelalterlich, wie auch die Schlagzeilen in der Zeitung: Geschützdonner dringt bis zur Hauptstadt, vor den Toren Nankings, Ausländer fliehen. - Der tote Khomeini ist ihnen beim Transport aus dem Sarg gefallen. Unter den Weinenden auch welche, die in die Kamera grinsen. Selbstmorde zu seinen Ehren.

    «Peking liegt im Würgegriff der Gewalt»(ZDF). Ein gebratener Chinese war zu sehen. Das ging über alle Kanäle und mehrmals am Tag. Als könnten sie’s nicht glauben.
    Wahlpropaganda angesehen. Eine Partei für neues Bewußtsein. Besonders blöd kam die SPD rüber. Und alle schreiten freudig in die sonnestrahlende Zukunft hinein. - Eine Partei der christlichen Mitte, schreckliche Bilder von abgetriebenen Embryos. Ich denke immer, das ist KF. Kann man hier nicht von Völkermord sprechen? 250 000 Tote pro Jahr! Allein in Deutschland. Was steckt nur dahinter, daß man nichts dagegen sagen darf? Um jede geschossene Elster machen sie weiß Gott was für einen Wirbel.

Nartum
Do 8. Juni 1989
    Bild: China / Das schreckliche Dokument
    ND: Egon Krenz und Oskar Lafontaine: Große Verantwortung der DDR und der BRD für Frieden und Abrüstung
     
    Es ist wirklich wahr, Biermann hat den Hölderlin-Preis bekommen. - Im Radio wird ein Pianist angekündigt:«… der ja auch immer wieder das Hamburger Publikum durch seine Spielfreude hinreißt.»
    Wieder Leibschneiden, ich liege im Bett. Wärmflasche. Leider kein Mittagsschlaf möglich, da immerfort Tiefflieger über uns hinwegdonnern. Die fliehenden Kühe mit baumelndem Euter. Pferde fliehen entschieden eleganter.
    In der Volkskammer Sindermann:«Bei uns sind Freiheit, Vollbeschäftigung … selbstverständlich.»- Was dazu wohl seine Untertanen sagen. - Die SED unterstützt die DKP mit 60 Mio. Mark jährlich! Daher die riesengroßen Kampfplakate in der Universität Oldenburg. Die Partei hat nur noch 48 000 Mitglieder («Spiegel»). Immerhinque. So viele Idioten?
    Ein Brief aus Pittsfield. Eine Dame schreibt, sie sei jetzt dabei,
in chronologischer Reihe«die Bücher Ihrer Familiensaga noch einmal zu lesen… - Armes, zerstückeltes Deutschland, vollgestopft mit den fürchterlichsten Waffen, besetzt von Soldaten verschiedener Nationen, endlose Manöver in dem winzigen Land …»
    Mit Thilo Koch telefoniert: 1951 war er in den USA, in Los Angeles, da hat er ins Telefonbuch geschaut, Mann, Mann, Mann, Mann, Thomas, Capri Road. Ob er einen Besuch machen darf, hat er gefragt. Ja, warum denn (Katia Mann), nur so, ein junger Deutscher. Na, mal sehen … also morgen zum Tee. Er hingefahren, falsch mit dem Bus gefahren, weil er Capri Road nicht richtig ausgesprochen, dann doch gefunden, im blauen Anzug, bergan, geschwitzt. Da lag es, das Haus, eine respektable Villa, Tür angelehnt, ohne Klingel. Drin die Frau, Platz genommen, und dann Er, aus dem Mittagsschlaf, schlecht gelaunt, Zigarre, erst nach zehn Minuten habe er ihn wahrgenommen, ein tiefer Blick. Ob er in der Hitlerjugend gewesen sei. So so, hm hm. Er wolle wieder nach Europa ziehen, es fehle ihm hier der Campanile. - Der«Zauberer»sei nicht sehr ästhetisch gewesen, und die erste Frage, die er gestellt habe, sei gewesen:«Was ist Ihr Background? »

Nartum/Detmold
Fr 9. Juni 1989
    Bild: Kopf angenäht/Tim/Die ersten 50 Schritte
    ND: DDR verwirklicht KSZE-Vereinbarungen/Volkskammer bestätigt Haushalt 1988
     
    Goethe über den Selbstmord:«Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so töricht sein kann, sich zu erschießen; der bloße Gedanke erregt meinen Widerwillen.»- Und Werther?
     
    2000: Ja, erschießen! Eine Pistole bekäme man schon, für 4000 Mark wurde mir eine angeboten. Aber dann schießt
man nicht richtig und muß sich für den Rest seines Lebens Vorwürfe anhören. - In Kanada der Mensch, der sich in

Weitere Kostenlose Bücher