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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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seiner Hütte erschoß, und dann stank sie jahrelang, man mußte sie abbrennen. Die Elsner, die aus dem Fenster sprang.
     
    Dorfroman: Ich hab’ jetzt draußen vor das Bibliotheksfenster, an dem ich immer sitze und arbeite, einen Tischbock gestellt, damit mich die Hühner in Ruhe betrachten können. Das ist ein freundlicheres Interesse an uns als das Hämmern der Krähe. Werbespruch für den Kirchentag:
    Abendmahl mit Weißbrotstulle
und Rotweinpulle,
hier fühl’ ik mir wohl.
    Spargel.

Detmold/Nartum
Sa 10. Juni 1989
    Bild: Hoffnung für Millionen/Aids besiegt?/Professor fand Immunstoff
    ND: Freundschaftliches Gespräch zwischen Erich Honecker und Edvard Schewardnadse
     
    Schönes Wetter. - Die Schwiegermutter war zwei Tage hier, ich sah sie nur kurz. Sie dämmert meistens vor sich hin, dann wieder plapperte sie, immer auf der Flucht, immer etwas klebrig, alles vergessend und das Vergessen spielend, mißtrauisch und, ja - aufdringlich irgendwie, tragisch und unerträglich, dabei bedauernswert und rührend. Damit werde einer fertig.
    «Ich will mich verabschieden», sagt sie am Abend,«ich gehe nicht freiwillig, man schickt mich weg.»Das sind Worte, die natürlich haften bleiben sollen und Hildegard bis an ihr Lebensende verfolgen werden. Wie nennt man so was? Ein schlechter Abgang. Gestern lag ich noch bis 13 Uhr im Bett mit kolikartigen Leibschmerzen.
Um 14 Uhr fuhr ich mit Robert nach Detmold zum Prinzen von der Lippe, auf Bundesstraßen schleichend (Freitag), wo wir Viertel nach sechs ankamen. In Nienburg machten wir Station. Leider hat man das Weserschlößchen abgerissen, wo wir uns hatten stärken wollen. Saßen in einem langen Gang inmitten einer Reisegesellschaft und aßen schlechten Kuchen. Ein Herr sprach mich an, immerhin. Ob er ein Foto von mir machen dürfe. Ich stellte mich mit Robert in Positur.
    In Detmold legte ich mich dann erst mal hin, stand nach dreiviertel Stunden auf sonderbarste Weise total erquickt auf und schritt im holzgeschnitzten Ahnensaal des Schlosses zur Lesung, wo etwa 120 schwarzgewandete Gäste meiner harrten.
    Ich las aus M/B die ersten beiden Kapitel, die mir etwas lang vorkamen. Es muß noch der Fontanesche Tonfall raus, der hat mir schon in den«Hundstagen»zu schaffen gemacht. Dort war er parodistisch gemeint. Sehr skeptisch. Ungeschickt war es, die Lesung mit dem quasi erzwungenen Geschlechtsakt Jonathans abzuschließen. Die Prinzessin hinterher: Schlimm war das nicht, aber als Schluß ungeeignet. - Eine junge Pianistin spielte drei Stücke von«Schosta kowski »(Opus I), wie der Prinz sagte. Da aber alles sehr liebenswürdig war, nahm keiner daran Anstoß. Mir gefiel das Arrangement ganz gut, aber die Stücke waren zu kurz, ich konnte mich nicht darauf einstellen. - Haarsträubende Geschichten von der Besatzungsmacht, wie die Briten im Schloß gewütet haben. Nach 14/18 schon die örtlichen Deutschen. - Kaltes Buffet großen Ausmaßes, Beamte der Stadt. Ich berichtete schreiend von meinem«Echolot». Soso! Daß ich den Toten Stimme leihen will. Wie?? Ich sage: Die Toten sollen auch mal zu Wort kommen! Sosososo. Jajajaja… - Heute früh erstklassiges Frühstück, die Eier waren mit Bleistiftaufschrift versehen («3½ Min.»und«5 Min.»), der Hund, das wurde uns beim Kaffeetrinken erzählt, habe sich in Hamburg interessiert ein Hundegeschäft angesehen, die Knochen in den Auslagen usw. So wie unsereiner eine Buchhandlung. - Danach wurde uns das Schloß gezeigt. Während der Prinz uns die Porzellan-Pretiosen vorführte, und von Diebstählen durch die Touristen berichtete, erzählte Robert
treuherzig von seinen verschiedenen Flohmarkt-Erwerbungen. Die Toiletten für Touristen in gotisch eingewölbten Kellerräumen. - Allerhand innere Ängste.
     
    Im TV Nachhall aus Peking. Verhaftete, die überflüssigerweise im Würgegriff zum Verhör geführt wurden, strenge Verhörbeamte beiderlei Geschlechts von hinten. Ziemlich entmenscht alles, ziemlich kommunistisch also. Immerhin: Wie Freisler schrien sie nicht, die unabhängigen Richter, das haben sie wohl vorher und hinterher besorgt. Die bundesrepublikanische Linke bezieht die Vorstellung nicht auf sich. Genausowenig wie Budapest, Prag und Afghanistan auf sie beeindruckend wirkte.
    Die Bauarbeiter hier bei uns beschweren sich über ihre Arbeit, im Winter zuwenig und im Sommer zuviel! Nur so weiter, kann man da nur sagen, dann werdet ihr bald gar nicht mehr zu arbeiten brauchen.
    Gorbatschow hat gesagt, das nächste

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