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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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… Aber das war’s denn auch schon. Ich habe alles nur Dierks zu verdanken, und das werde ich ihm nie vergessen. Seit 1979 keine Schule mehr zu halten brauchen, das macht sich auf der Lebenskurve bemerkbar.
    Die zweite Generation der Türken in Deutschland kriegt auch schon weniger Kinder.
    Oscar Wilde über den Selbstmord:«Selbstmord ist das größte Kompliment, das man der Gesellschaft machen kann.»- Stifter, die gräßliche Sache mit dem Rasiermesser. - Von Stefan Zweig gibt es ein Foto, wie er mit seiner Frau«entseelt»im Bett liegt. Die Frage des Abschiedsbriefes. Von Kurzschlußhandlung wird geredet, aber nicht von der langen Zeit, in der sie sich vorbereitete.

Nartum
Fr 30. Juni 1989
    Bild: Die Bahlsen-Tragödie/Schwiegersohn schoß sich in den Kopf/Strauß - Piller: Der Ehevertrag
    ND: Stürmischer Beifall für Rede Erich Honeckers in Magnitogorsk /Unerschütterlich mit der KPdSU der UdSSR und dem Sowjetvolk verbunden
     
    Rechnung über Hühner- und Katzenfutter: 54 Mark! Obwohl das Füttern der Tiere meinen Recherchen für den Dorfroman gilt, werde ich die Kosten wohl kaum von der Steuer absetzen können.
    Eine Frau aus Köln schreibt, sie sei die alte Dame, die mir bei meiner Lesung schräg gegenüber gesessen hätte, sie sei in Begleitung eines jüngeren Paares gewesen. Sie möchte sich allerhand Belastendes mit meiner Hilfe von der Seele schreiben. Sie habe sich als Einzelkämpferin und Schrittmacherin gefühlt, auf Gebieten, die erst heute zu Themen der jüngeren Generation geworden sind. Sie sei keine bridgende und golfende alte Dame, und sie möchte wissen, wann sie mich besuchen darf.

Juli 1989

Nartum
Sa 1. Juli 1989
    Bild: Tennisspieler Tore Meinecke / Boris’ Freund im Koma
    ND: DDR und UdSSR tragen gemeinsam zur Stärkung des Sozialismus und zur Sicherung des Friedens bei
     
    Regen,warm, Hildegard sagt, es sei«nacktwetterig».
    Ich arbeitete den ganzen Tag am«Sirius». Heute früh auch erste Skizzen zum achten Kapitel von M/B: Joe fliegt über die Ostsee, 52 Seiten. Hierbei kommen mir meine Notizen zugute. Der Dreckstrom, der bei Stettin aus der Oder austritt. - Nun beginnen die«ideologischen»Schwierigkeiten. Wie weit soll ich meinen Notizen folgen, an ihnen entlang formulieren-phantasieren, wie weit darf ich die Dinge beim Namen nennen? Kann ich aushalten, was später daraus folgt? Ich möchte weder als Revanchist noch als Lügenbaron in die Literaturgeschichte eingehen. - Es muß geklärt werden, ob die«Abtretung»Stettins an Polen rechtens war oder ob sie es sich einfach genommen haben.«Sirius»jetzt 152 Seiten. In der Nacht suchte ich Fotos heraus. Das Buch sei für jeden Kempowski-Leser ein «Must» , sagt Paeschke. Schwierig auszusprechen das Wort. Das Buch entwickelt sich allmählich zu einer Autobiographie.
    War heute Mittag«frustriert», hatte mich totgelacht über einen miserablen Jungdichter im Bachmann-Wettbewerb, und zu meinem Erstaunen wurde er von allen über sonst was gelobt.
    Ihr lieben Kinder, ich bin fassungslos. - Werde mir mal ein paar Kritiker-Slogans notieren.
    Gestern in den Nachrichten: 600 Mio. Kredit zu Vorzugszinsen der USA an DDR landen über Geldwaschanlagen bei Aufständischen in aller Welt. Nicaragua. Aber keine großen Vorwürfe.

    DDR wird drüben mit Nachsicht behandelt. Wir sind die Bösen. Green-Peace-Leute hissen gelbe Fahne auf ausgebeultem Sowjet-U-Boot. Ein Riesending - sonst sieht man ja immer nur den Turm. Die Ähnlichkeit mit Walen.
    Im Sudan putscht leider wieder die falsche Seite, die Marxisten haben 100 000 Hungertote im letzten Jahr auf dem Gewissen. In der ČSSR Kirchenschikanen, 30 Priester Berufsverbot. Hitler hat die Kirchenfeindlichkeit schwer geschadet. Die Kommunisten werden hingegen hofiert. - In der SU ist es zum ersten Mal erlaubt, Kirchenmusik öffentlich aufzuführen. (Warum hat man vorher nie davon erfahren, daß das verboten war?«Matthäuspassion»nix?) Nie Orgelmusik, heißt es. Aber sie haben in Rußland wohl nicht so viele Orgeln. Ich sehe Schostakowitsch vor mir, wie er ein Grammophon aufzieht und sich heimlich Bach-Kantaten anhört. Das Ohr am Schalltrichter.
    Am Beispiel Pekings: Wie schwer es ist, Diktatoren wieder loszuwerden. Und wie schnell das Volk den Kopf beugt. Auf Nazi-Deutschland übertragen, wird so was nicht akzeptiert. Da hätte jeder auf die Straße gehen sollen und:«Nein!»sagen. Aber wann? Und wo? Wehret den Anfängen … Aber wo sind sie, die Anfänge? Überlegungen zu Ursache und Wirkung sind

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