Alkor - Tagebuch 1989
schöne Schwierigkeiten machen.
Spaziergang zu Hause war unmöglich, da auf dem Acker nebenan Gift versprüht wurde. - Später wieder nicht möglich, weil ein Bauer auf der Straße seinen Trecker laufen ließ, eine halbe Stunde Diesel-Cumulus. Unterhielt sich unterdessen.
Der Kälber-Skandal. Daß es überhaupt Menschen gibt, die Kalbfleisch essen.
Film:«Saustall». - Gut gemacht.
Mitternacht: Große Rettungsaktion zugunsten eines Nachtfalters, der mich mit seinen rötlichen Glasaugen anstarrte. Weißes Häubchen auf dem Kopf. Ein reines Taschentuch nahm ich. Ich fürchte, er hat ein Bein gelassen. Weiteres Schicksal unbekannt. Er flog in die dunkle Nacht surrend davon. Auf und davon.
Nartum
Fr 18. August 1989
Bild: Dramatischer Appell der Flüchtlinge/«Herr Kohl, holen Sie uns raus!»
ND: Risaer Metallurgen im Wettbewerb mit Planplus
Schmeichlerische Autogrammwünsche («Ich kenne alle Ihre Werke! ») werden sofort weggeschmissen. Anlügen lasse ich mich nicht!
An Robbi hängen die vollgesogenen Zecken wie Stachelbeeren.
Dorfroman: Die Küken sind nun schon ziemlich groß, die Hähnchen kämpfen - sehen sich stur an, bis einer nachgibt, sie üben Klettern auf den Holzstapeln.
Rief einer an, um Mitternacht, ob ich die Telefonnummer von Ernst Jünger weiß.
Nartum
Sa 19. August 1989
Bild: Die 4 sind da!/Sonnabend aus Botschaft geworfen/Montag von Bild betreut!/Jetzt Flucht bei Vollmond
ND: IGA 89 in Erfurt eröffnet/Lehr- und Leistungsschau offeriert Ergebnisse intensiven Gartenbaus
Es ist nicht zu fassen! In Polen wird eine nicht-kommunistische Regierung gebildet. Und die Ungarn schicken die Flüchtlinge nicht zurück.
Gaus und wie heißt der andere noch, ach ja, Jurek Becker, der mit mir (aus ideologischen Gründen?) nicht an einem Tisch sitzen wollte, führten ein verklausuliertes Gespräch. Gaus nannte das SED-Regime ein mildes, in dem nicht wie in der ČSSR oder Polen gewütet worden sei. Nun, ich habe da eine andere Erfahrung. Schade, daß ich nicht über genug Spannkraft verfüge und Zeit, ich würde gern ins Aufnahmelager Gießen fahren, um die
Stimmung dort auf mich wirken zu lassen. Aber was will man da? Vor Bier und einer Bockwurst unterm Zeltdach sitzen und die Aufgeregtheiten dieser Leute auf mich wirken lassen? Sie nach Plankton fragen? Schulterklopferei. Die Menschen werden auf die Länder verteilt, wie es heißt.
Ein einzelner Kranich flog über’s Haus, zielstrebig nach Westen.
Heute nach Hamburg. Eine dreiviertel Stunde in einem italienischen Gartenlokal aufs Essen gewartet, dann hab’ ich mich davongemacht. - In der ABC-Straße entsteht ein neues Viertel. Keine Wohnungen etwa, sondern Ladenpassagen und Büros. Damit ist noch lange nicht«Schwamm drüber»über die Niederlagen und Beleidigungen, die ich hier in dieser Straße erlitten habe. Sie werden mich bedrücken, solange ich lebe.«Sie sind für mich ein ganz gewöhnlicher Krimineller», das habe ich mir einst sagen lassen müssen.
Die Schnelligkeit, mit der sich die Tankstellen auf«bleifrei»eingerichtet haben.
Simone hat das Archiv aufgeräumt, recht angenehm. Merkwürdigerweise arbeitet sie gern auf dem Fußboden.
Im TV: Eine Tribunal-Show gegen Bossi, weil er SPD-Schnoor angegriffen hat. Staeck und noch drei andere haben gegen ihn angeschrieen. Deutsche Art zu diskutieren. Sie können nur brüllen.
Herzbeschwerden durch Tropfen gemildert.
Schlief heute mittag zwei Stunden.
Chet Bakers letztes Konzert.«My funny Valentine». Ziemlich kitschig. Ich denk’: Wer singt denn da? Er war es selbst. Er hat sich in Amsterdam aus dem Fenster gestürzt, kam nicht mehr klar mit sich und der Welt. Es hieß, er habe deshalb so zart Trompete geblasen, weil er die Nachbarn nicht stören wollte.
Irgendwo habe ich gelesen, daß das wunderbar wäre, sich aus dem Fenster zu stürzen, man sei so befreit. - Ich würde es trotzdem nicht tun. Ich denke inzwischen: aufhängen wäre passabler. Man verliert ja sofort die Besinnung, wenn man den Strick richtig umlegt. Aber die Angehörigen! Denen streckt man dann
die Zunge raus? - Einen Abschiedsbrief würde ich nicht hinterlegen. Sie können sich doch denken, weshalb man sich davonmacht. - Améry nahm 50 Schlaftabletten.
Nartum
So 20. August 1989
Welt am Sonntag: Massenflucht: 300 DDR-Bürger nach Österreich /Ungarn warnt vor Tragödie an der Grenze/SED-Führung plant Säuberung der Partei
Sonntag: Ich lache, also bin ich. Karikaturen auf dem Solidaritätsbasar
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