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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Reden dem Text beizugeben. - Mir wird vor der riesigen Arbeit bang.
    M/B ruht erst mal. Wenn«Sirius»abgegeben ist, arbeite ich weiter daran. Ich sitze den ganzen Tag und fummle vor mich hin. Das Herauspräparieren und vorsichtige Ergänzen.«Den Tee aufgießen», wie Jünger es nennt. Das Einarbeiten von Notizzetteln und Briefen.
    In Polen scheinen sie es geschafft zu haben. Wer hätte das gedacht!
Nun müssen die Leute erst mal was zu essen haben. In der SU geht’s auch rasant aufwärts (bzw. abwärts). Unglaublich! Das hat niemand vorhergesagt. All unsere klugen Fernsehmoderatoren, die Journalisten und Auguren, all diese Leute haben es nicht geahnt. Die wirklich einschneidenden Veränderungen kommen über Nacht. Auch Ungarn! Nicht zu fassen. Tausende von Deutschen nutzen die Gelegenheit, herüberzukommen. Auch interessant, daß kein Kamera-Team Aufnahmen davon zeigt. Die zeigen in Gießen die Kantine, das ist ja auch wesentlich einfacher. - Leider reicht meine Kraft nicht, nach Gießen zu fahren. Eigentlich müßte ich es tun. Vesper am Telefon:«Warum? Was willst du da?»- Du lieber Himmel, das sind doch unsere Landsleute! Wenn wir sie nicht begrüßen …
    Filmaufnahmen aus der ČSSR, Demonstrationen. Lachende Polizisten, die auf die Leute einprügeln. Ein Zivilpolizist in blaugestreiftem Pullover stellt einem Flüchtenden ein Bein, und der wird von sechs bis acht Polizisten«fertiggemacht», wie man das nennt. Das Blutbad können wir uns nicht vorstellen, was angerichtet wird, wenn die Sache da explodiert.
    Diese Tschechen sind offensichtlich wesentlich grobschlächtiger als die DDR-Polizei. Vielleicht können Ostmenschen tatsächlich mehr ab als unsereiner. Wenn man denen einen Knüppel auf dem Kopf zerschlägt, schütteln sie sich und gehen weiter. Unsere Leute laufen gleich zum Psychiater. Werden seelisch betreut.
    Heute kommen Paeschke und Frau. Ich hab’ gesagt, er soll Kuchen mitbringen. Mal sehen, ob er noch immer streßfest ist.
    In der großen, reichen SU ist die Seifenversorgung zusammengebrochen. Es ist nirgends ein Stück Seife zu bekommen.
    Die Ungarn«entdecken die Sozialpolitik»(FAZ).
    «Nichts ist dem real existierenden Sozialismus so fremd wie die Sozialpolitik …»- In Rumänien werden die über 70jährigen von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Das hat ja schon fast Ähnlichkeit mit der Nazi-Zeit. Wieso erfahren wir das erst jetzt?
    Meine Reise nach Bukarest. Ich hatte damals einen extra Beschatter.

    Ich fand im Archiv eine 100 Jahre alte Poesiealbumeintragung aus Greifswald:
    Rosen, Tulpen, Nelken,
alle Blumen welken,
nur unsre Freundschaft nicht,
lebe wohl, Vergißmeinnicht.
    Zur ewigen Erinnerung,
an Deinen Mitschüler Wilhelm Schwebs
Greifswald, den 22. 8. 1889

Nartum
Mi 23. August 1989
    Bild: Berlin: Vogel krachte in Kanzler-Jet/Kohl knapp am Tod vorbei/Der neue Mann nach Geißler/Nun mal ran, Herr Rühe!
    ND: Gewerkschafter in der Plandiskussion/Viele Initiativen für einen hohen Leistungszuwachs
     
    Warm. Gestern waren Paeschke und Frau hier. Er in Schlips und Kragen, sie mit Klingelklangel am Handgelenk. Von seiner Armbanduhr und ihrem Schmuck hätten wir wahrscheinlich unser Haus kaufen können. - Wir saßen in der Laube und tranken Kaffee und aßen kleine Kuchen, die sie aus Hamburg mitbrachten. Die Schafe gesellten sich zu uns, und als wir den Kaffee tranken, legten sie sich nieder und kauten still vor sich hin, alles ganz normal. - Renate und der Amerikaner waren auch da. Die konnten mal sehen, wie ich mich mühen muß, um Kurs zu halten.
    Der Amerikaner verlieh unserem Haus etwas von Weltoffenheit. Eine Investition, die sich letzten Endes bezahlt macht. Ich gab Paeschke das«Sirius»-Manuskript und bat ihn, uns daraus vorzulesen, was er auch tat, und da er zufällig eine komische Stelle erwischt hatte und lachen mußte, akzeptierte er das Buch
mit Haut und Haaren, obwohl er Tagebücher als Verleger nicht sehr schätzt, wie er sagt, und von mir eher einen Roman erwartet. Schwierigkeiten gab’s keine. Er fuhr etwas zusammen, als er die Ausmaße von«Sirius»kapierte.
    Auch mit dem«Echolot»gibt es keine Probleme.«Wer soll das lesen?»fragte er natürlich. Diese Frage werde ich noch oft zu hören kriegen. Ich antworte dann immer mit Golo Mann:«Derjenige, der das Ausführliche liebt.»In Zeiten der Zweieinhalb-Minuten-Kultur ist es doch eine Wohltat, ein dickes Buch auf dem Nachtschrank liegen zu haben. Manche Leute klagen über die lange Freizeit, eine Folge

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