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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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des«Sonntag»
     
    Ein amerikanischer Student kam für drei Wochen. Wir bezahlten sein Taxi: 33 Mark! Wird für die Völkerfreundschaft drangegeben.
    Kadenzen sind die Krönung abendländischer Musik. Die Kadenz vorm Tod, biographisch gesehen.
    Wer Tagebuch schreibt, muß ein Sonnensegel in seinem Universum entfalten, da finden sich immer Staubpartikel.
    Ein Fotograf kam. Die Redaktionen interessierten sich im Grunde für nichts, nur der aktuelle Anlaß zählt, sagt er. Ich erhaschte etwas Plankton:
    Wir fuhren durch die Berge des Monte Negro im südjugoslawischen Inland, hatten ein paar wunderschöne Tage an der Adria verbracht und waren nun auf dem Weg nach Griechenland. Die Straßen waren staubig und schlecht zu befahren, im Auto war es heiß und stickig, und die Berge wollten kein Ende nehmen. Zudem hatten wir den Weg auf der Karte verloren, wußten nicht, wo wir die Nacht verbringen würden, und Verpflegung und Benzin waren knapp - die Stimmung verschlechterte sich zusehends.
    Die Sonne wurde schon rötlicher, als ich in der Ferne zwischen den Bergen eine Hängebrücke entdeckte und nach ein paar Kurven abseits der Straße hinter einer abfallenden Wiese einen flachen Fluß mit sehr klarem Wasser in einem steinigen Flußbett. Wir hielten sofort an, schnappten unsere Handtücher und kletterten den Abhang
hinab zum verlockend kühlenden Naß - wir konnten es kaum erwarten, die verschwitzten Kleider vom Leib zu reißen und uns den Straßenstaub abzuwaschen.
    Wir erreichten eine malerische Stelle mit einer Vertiefung im Flußbett, wo das Wasser glasklar und türkis war. Über unsern Köpfen schaukelte die Hängebrücke im leichten Sommerabendwind. Ein kleiner jugoslawischer Bauernbub lief behende über die Brücke, er hielt einen Weidenstock in der Hand und winkte uns zu. Später kletterte er zwischen Gestrüpp und Felsen herunter und badete mit uns, bis die Sonne verschwunden war.
    Volkserzählungen sammeln wie die Brüder Grimm.

Nartum
Mo 21. August 1989
    Bild: 900 aus Ungarn raus/Frei!/Sie küßten die Erde/Sie drückten das Tor auf und gingen einfach weiter/Ungarns Grenzsoldaten sahen zur Seite/Größte Flucht seit dem Mauerbau
    ND: DDR-Schwimmer in Bonn erfolgreichste Mannschaft
     
    Kohl spricht jetzt so, als müsse er mit seinem Stimmenimitator wetteifern.
    Zahllose Lichtbilder sind auf eine hohle Glaspyramide geklebt. Sie werden von außen beleuchtet. Innen, auf der Basis der Pyramide, stellt sich ein buntes Muster dar: Das ist der Roman.
    Die verrückteste Kritik, die ich je erhielt, stammt von einer evangelischen Rundfunkkritikerin:«Ich glaube Kempowski kein Wort», schrieb sie. (Es ging um«Moi Vadder läbt».) Ich weiß nicht, ob ein männlicher Kritiker zu so einer Idiotie fähig wäre. Dorfroman: Hühner-Drama. Ich fand in der Nacht den Hahn auf der Gittertür sitzen. Ein Marder o. ä. hat ein Küken totgebissen. Heute sind alle Hühner im Haus, trauen sich gar nicht in den Garten. Der Hahn spaziert die Bibliothek entlang, als müsse er sie«abnehmen».

Nartum
Di 22. August 1989
    Bild: Nach Geißlers Sturz/Stürzt auch Kohl?/Gleich hinter der Grenze/Flüchtling starb vor Glück
    ND: Zwischenfrüchte auf über einer Million Hektar gesät
     
    Immer noch heiß.
    Der Schock damals, als ich erfuhr, daß Mutter ihr viertes Kind abgetrieben hat (ein Junge?). Er (es) wäre 1936 geboren worden. Jetzt 54 Jahre alt. Vielleicht auch in Bautzen gelandet? - Immer wieder stelle ich mir vor, wie der Arzt den kleinen Fötus mit einer Häkelnadel entfernt hat. Ein unersetzlicher Verlust.
    Wir haben hier wieder einen Amerikaner. Er kommt aus Montana. Ein sonderbarer Mensch, klein, sitzt auf seinem Zimmer und spielt Mandoline. Tagsüber ißt er so gut wie nichts, abends legt er mächtig los. Die Tatsache, daß er gleich am ersten Tag in der ersten Stunde einen das ganze Haus erfüllenden Furz ließ, verschaffte ihm einen schlechten Start.
    Hildegard:«… und wann fahren Sie wieder fort?»
    Ich habe ihn gebeten, die«Echolot»-Seiten zu zählen, er ist auf über 2000 gekommen.
    Die Hitze ist kolossal. Unsere Ebereschen-Allee ist gelb vor Trokkenheit. Bis gegen Mitternacht saßen wir in der Laube. Der Ami spielte Mandoline und erzählte lustige Stories von seinem jähzornigen Vater.
    Ich sitze den ganzen Tag über dem«Sirius». Vom«Echolot»habe ich den 20. April 1945 nun gänzlich herauspräpariert und kollagiert und probeweise verschickt. Es bietet sich an, auch ein Tonband mit dazugehörigen Musikstücken oder

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