Alkor - Tagebuch 1989
schrieb:«Hunger in Rußland? Dummes Geschwätz. Nirgendwo habe ich so gut gespeist wie in Rußland.»Zur gleichen Zeit hungerten in unserem Land Millionen, und ein paar Millionen Bauern sind verhungert. …
Früher quälte mich die Frage nach dem Warum? Warum belügen diese Leute die ganze Welt? Warum spucken hochberühmte Humanisten auf uns? Auf unser Leben, auf unsere Ehre und Würde?
Doch dann wurde ich mit einem Schlage ruhig und gleichgültig. Sollen sie doch spucken. Soll sie doch der Teufel holen. Ihnen geht ihr behagliches Leben als berühmte Humanisten über alles. Das heißt: man braucht sie überhaupt nicht ernst zu nehmen, sie zählen gar nicht. Sie kamen mir auf einmal wie Kinder vor, allerdings wie garstige Kinder.
Ich suchte heute einen kleinen Leberfleck an meinem Fuß vergeblich, als Kind habe ich ihn mir gelegentlich angesehen. Er ist wohl rausgewachsen.
So geht’s mit manchen Sachen, die wir getrost belachen …
Nartum
Sa 26. August 1989
Bild: Toter Strauß im«Spiegel»/Die Abrechnung/Über Kohl: Reitet auf Waagebalken/Über Wörner: Unvorstellbare Skandalfähigkeit / Über Genscher: Leere Papierkorbformeln/Über Geißler: Hat uns diffamiert
ND: Getreideernte erfolgreich beendet/Volksbildungsaktive berieten in allen Kreisen vor Beginn des neuen Schuljahres
Schon wieder ein Ballon am Himmel - wie eine vollgesogene Zecke: Mich stören die Dinger. Es muß gewiß ganz angenehm sein, mit dem Apparat zu fahren, aber, wenn ich im Garten sitze und lese: das dauernde Hingucken, ob sie nun näherkommen oder weggeweht werden. Außerdem: Man sieht den Himmel schon bedeckt von Ballonen jeder Größe (Morgenstern). Zwerge, die sich im Gras verirren, würden uns weniger stören, zu denen muß man ja auch nicht aufschauen.
In der Nacht ließ ich mich von«klassischer Musik»verhöhnen. Ich habe hier zwei Aluminium-Hülsen mit Selbstmordpulver aus dem 2. Weltkrieg. Ob das Zeug noch funktioniert? - Es ist wahr: Man denkt über diese Selbstzerstörungsaktion hinweg auf das Danach: Was werden sie sagen? Ich werde die Phiolen niemals leeren, aber daß sie da sind, ist beruhigend.
Nartum
So 27. August 1989
Welt am Sonntag: Budapest verschärft Überwachung seiner Grenze/Noch 20 000 Bürger wollen über Ungarn fliehen/5000 bei Fluchtversuchen gestellt
Sonntag: Alles Wissen hat elementarische Kraft. Die Akademie der Wissenschaften im 40. Jahr der DDR. Von Werner Scheler
Regen, Sturm. Grade das richtige für mich. Sonne ist mir lästig. Heute früh nahm ich mir mal wieder die Bach-Choräle vor:«Jesu, meine Freude …»Vier verschiedene Versionen. Dazu die Choralvorspiele von Johann Gottfried Walther.-«Ach, wie lang, ach lange, ist dem Herzen bange …»Zur Hochzeit hatte ich um dieses Lied gebeten, es wurde mir ausgeredet.
Rolf Schneider, im Anzug mit Krawatte, rollt mit den Augen und sagt, mit den Polen, mit denen er 30 Jahre sozialistische Vergangenheit gemeinsam hat, verbindet ihn mehr als mit den Westdeutschen. Wie er sich keck spreizt bei seinen Antworten! Einen wirklich schönen Schlips trägt er, der gute Junge. Ob es ein polnischer ist?
TV: Originelle russische Clownerien,«Die Raffgier». Ich nahm die Sache auf und sah sie mir gleich noch einmal an. Wie die Amis, so haben auch die Russen einen speziellen, vom Volkscharakter geprägten Humor. Der Clown Popov! Ach! Bei uns ist ziemlich Ebbe mit dem humoristischen Volkscharakter. Stupidität hat sich breitgemacht. Und was trotzdem noch einen Hang zur Groteske sich bewahrt hat, wird ausgemerzt. - Der letzte deutsche Komiker war Hans Moser.- Die Trickfilme von Loriot. Früher gab es mal die Brüder Wiere.
Seit Tagen Schwerstarbeit, ich weiß auch nicht, was das soll. Hildegard sagte zum Munterhund:«Geh’ doch mal’n bißchen raus, es ist schönes Wetti!»- Der Hund ist anderer Meinung, er läßt sich’s zweimal sagen, ohne recht darauf zu reagieren. Ach, warum ist nur mein kleiner Wellensittich gestorben! Es war immer so schön, wenn wir uns gegenseitig pfiffen. Acht- bis zehnmal hat er’s gemacht, danach antwortete er nicht mehr: dann
war es ihm zu dumm. Den Bleistift stieß er mir weg, wenn ich schrieb. Und unendlich zart weidete er mir die Haare auf den Ohren ab. Beim Klavierspielen knabberte er die Noten an. (Die Mäuse unseres Hauses sind mehr für Bücher zu haben, der Leim schmeckt ihnen.) Und manchmal kroch er in meinen Mund hinein, um an meinem Goldzahn seinen Schnabel zu wetzen, nur noch der Schwanz war zu
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