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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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heute dazu. Grass jung und dick, der gleisnerische Lattmann, Individualität verdammend (er bekam bezeichnenderweise das Schlußwort). An der Wand seines Studierzimmers hängt eine Geige mit Bogen, schräg drüber. Sprach tatsächlich vom«Elfenbeinturm», heute noch! - Lenz wurde nicht gezeigt - nicht interessiert. - Brandt, die Luft melkend. - Kein Wort davon, daß der prophezeite Zusammenbruch der BRD nicht eingetreten ist. Am vernünftigsten kam mir noch Dieter Hildebrandt vor. Er habe den
Krieg noch mitgemacht und empfände die BRD als«gar nicht so schlimm». Er wolle sie erhalten, nicht zerstören. - Lattmann war es wohl, der unsere lieben kleinen Schriftstellervereine kaputtgemacht hat mit seiner Gewerkschaftsmacke. Er wußte genau, warum er es tat.
    «Es gibt in der Bundesrepublik keine Armen, es gibt nur Sozialhilfeempfänger. »
    Die Flucht der Deutschen aus dem Paradies der Werktätigen hat unglaubliche Ausmaße angenommen. Gestern sind 300 Leute verraten worden, kamen mit Bussen an die Grenze und wurden bereits von der NVA erwartet. Was sie in Ungarn wollen? Urlaub machen? -«Und das sollen wir Ihnen glauben?»
    Ereignisse.-Da bleibt einem die Spucke weg. Die baltischen Staaten werden sie wohl aus der SU«entlassen»müssen. Wer hätte das gedacht!
    Die amerikanische Raumsonde fliegt heute am Neptun vorbei und«verschwindet dann in den Tiefen des Weltalls», wie der Sprecher sagt. Hildegard:«Ein schauriger Gedanke. Hu!»- Raumsonden, das sind so eine Art Zigarrenkisten mit Detektorempfänger und Taschenlampenbatterie.
    Großer Streit über NKFD-Leute (National-Komitee-Freies-Deutschland), die nun von einigen Publizisten und natürlich von der evangelischen Kirche als Märtyrer hingestellt werden. Dabei sind die Berichte der Kriegsgefangenen über sie ziemlich eindeutig. Robert, zum Beispiel, hat sie nur mit Knüppeln erlebt. Das waren oft Kommisköppe, die sich auf Kosten ihrer Kameraden ein besseres Leben machen wollten. - Ausnahmen gab’s natürlich: sogenannte Idealisten, Menschen also, die glückselig lächeln und ein dickes Brett vor dem Kopf haben. Da sind mir die Bösewichter schon lieber.
    Post:«Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, daß das Kuratorium für die Auswahl der in Europa tätigen Künstler eine Verleihung des großen Preises von Europa ‹La Musa dell’ Arte› (‹Die Muse der Kunst›) und Ihrer Mitgliedschaft im Berufsalbum zugestimmt hat. Aus diesem Grund hat das Präsidium Ihnen den großen Preis von Europa … verliehen.»- Dafür soll
ich 320 Mark Mitgliedsbeitrag zahlen und bekomme eine Skulptur aus Messing«mit»24karätigem Gold.
    In den Schostakowitsch-Memoiren gelesen:
    Mich hat man gefragt:«Warum haben Sie das und das unterzeichnet? »Aber niemand hat André Malraux gefragt, warum er den Bau des Weißmeerkanals glorifiziert hat, bei dem Tausende und Abertausende ums Leben kamen. Nein, niemand hat ihn danach gefragt. Das ist sehr schade. Man sollte mehr fragen. Man sollte diese Herren fragen, denen niemand die Antwort verwehren kann. Ihr Leben war weder damals bedroht, noch ist es heute in Gefahr.
    Und Lion Feuchtwanger, der große Humanist? Voller Ekel habe ich seinerzeit sein Buch«Moskau 1937»gelesen. Es war kaum erschienen, als Stalin schon befahl, es ins Russische zu übersetzen und in einer Riesenauflage zu verbreiten. Ich las es. Das Herz krampfte sich mir zusammen in Bitterkeit und Verachtung für den berühmten Humanisten.
    Feuchtwanger schrieb, Stalin sei ein schlichter Mensch, freundlich und voller Güte. Zuerst glaubte ich, auch Feuchtwanger habe man über den Löffel balbiert, er habe nichts bemerkt. Dann las ich das Buch noch einmal und entdeckte: Der berühmte Humanist hat ganz einfach gelogen.
    Er schrieb:«Ich habe etwas ganz Wundervolles begriffen.»
    Was er begriffen hatte, war, daß die Moskauer Schauprozesse unvermeidlich gewesen waren. Und darum wundervoll: Er hatte«begriffen», daß die Schauprozesse die Demokratisierung förderten! Wer so etwas schreiben kann, ist kein Dummkopf, sondern ein Schuft. Und natürlich ein berühmter Humanist.
    Und wie steht es mit dem nicht weniger berühmten Humanisten Bernard Shaw? Was hatte der gesagt?«Sie erschrecken mich nicht mit dem Wort ‹Diktator›!»Natürlich, warum sollte ihn das Wort auch erschrecken? In England gibt es keine Diktatoren. Ihr letzter Diktator war Cromwell. Shaw fuhr bloß auf Besuch zu einem Diktator. Und Shaw war es auch, der nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion

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