Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
schon im Mund.
    Willst du kein pomadenduftender Jüngling sein, dann trete heute noch in die Hitlerjugend ein.
    (Hamburger Oberschule, am Schwarzen Brett, 1936)
    Abends:«Verklärte Nacht»zu Kartoffelchips. Auf dem Tisch orangerote Kapernblüten.

Nartum
So 8. Oktober 1989
    Welt am Sonntag: Geburtstags-Parade in Ost-Berlin, Festnahmen in Dresden und Leipzig/Gorbatschow sprach mit Honecker /DDR -Opposition fordert UNO-Aufsicht bei Wahlen
    Sonntag: Frieden seit über 40 Jahren. Werte unseres Lebens und die Literatur der DDR. Von Horst Haase
     
    «In Dresden lagen blutende Demonstranten auf der Straße.»Gestern hat’s wieder Demonstrationen gegeben in Berlin, Leipzig und Dresden. Sonderbar unwirkliche Aufnahmen. Die stehenden Straßenbahnen in der Dunkelheit und die Menschenmassen drum herumtreibend. Auf den Gehwegen rennen Leute, die noch mitmarschieren wollen. Andere haben die Fenster geöffnet und gucken hinunter. Sie werden zum Mitmarschieren aufgefordert. Die ernsten Gesichter der Demonstranten. Das ist eine andere Gewalt als unsere organisierten Gewerkschaftsdemonstrationen, wo die Leute sich grinsend unterhalten, während es um den Atomtod geht.
    Der dünnlippige, zittrige Honecker mit dem vitalen Gorbatschow. Deutliche Unsicherheit, er krampft sich an seinem Sozialismus fest, sein Staat sei ein Bollwerk. Nun, dieser Bannerträger wird bald verschwinden, danach kommen Irritationen, Halbherzigkeiten vermutlich. Wenn sie nicht aufpassen, explodiert die Sache. Sie selbst nennen sich Revolutionäre und waren damals, 1945, nicht zimperlich. Nun reden alle: Um Gottes willen, Geduld! Keine Gewalt! Auch Albertz hat sich wieder einmal vernehmen lassen. Das war doch auch so ein Revolutionär, hat der nicht mitgemischt damals? 1968 in Berlin zuerst nicht, dann doch.
    Gemäß der historischen Revolutions-Mechanik müßte es jetzt zu Blutvergießen kommen. Da nützt es nichts, daß die Mehrheit der SED-Kader (als Bangbüxen) längst eingesehen hat, usw. …. Zu spät! Für eine Ungarn-Lösung fehlt der rechte Mann, der das durchsetzt. Übrigens betätigte sich Gorbatschow aufrührerisch. Zwischendurch zwinkert er mit den Augen, wenn er da seine
Sprüche abläßt. - Die Reformer wollen den Sozialismus nicht abschaffen. Mit der SED gemeinsam wollen sie marschieren.«Reiht euch ein!»- Hildegard sagt zu Recht:«Sie beginnen mit einer Lüge.»- Namen haben sich noch nicht herauskristallisiert, zwei Frauen, die Bohley und eine dunkelhaarige.
    Inzwischen strömt der Flüchtlingsstrom weiter. Heute früh sind wieder über 1000 aus Ungarn gekommen. Es ist mir ein Rätsel, wie die es schaffen, dorthin zu gelangen. 47 000 sind es jetzt, so die publizistische Zählung. Die Letten wollen einen souveränen Staat ohne Atomkraftwerke und«fremde Armeen». Das wäre die einzige Rettung für den sowjetischen Koloss: eine Föderation. Sonst läßt sich das Land nicht regieren.
    Meine Flucht damals, der Sprung über den Grenzgraben, am 27. November 1947.
    Ein junger Pole ist hier zu Besuch. Er sagt, daß er in Polen niemanden kennt unter den jungen Leuten, der für Sozialismus ist. Alle wollen einen liberalen demokratischen Staat. - Kann ich mir vorstellen. - Ein neuer Mann drüben müßte sofort die Mauer abreißen und freies Reisen gestatten, dann hätte er die Massen auf seiner Seite. Es würde turbulente Wochen geben, doch dann würde sich schnell alles beruhigen. DM konvertierbar. Vielleicht würden sogar welche von hier rübergehen.
    Wie man sich das so als Laie vorstellt.
    Stiller fragte mich vor einiger Zeit, ob ich eigentlich wisse, daß ich viele Feinde hätte unter den Autoren?
    Warum sagte er mir das? Will er, daß ich in seine Arme flüchte? - Weshalb nennt er keine Namen? - Nur Feinde habe ich, an Freunde kann ich mich nicht erinnern. Wenn ich irgendwo hinkomme, wenden sie sich ab.

Nartum
Mo 9. Oktober 1989
    Bild: Vopos knüppeln, Honecker lacht - wie lange noch?
    ND: Die Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik wird auch in Zukunft das Werk des ganzes Volkes sein
     
    «Olivetti»-Mann war da und«erweiterte das Textprogramm»: Rechtschreibprüfung und Silbentrennung. Wieso das nicht im Programm drin ist, versteht kein Mensch. Wörterbuch gibt’s nicht - 1039 Mark!
    Jetzt ist die sogenannte Tür der Weltgeschichte für ein paar Minuten einen Spalt breit offen. Wird das nicht genutzt, ist es für lange Zeit vorbei. Schade, daß die SED sich nicht so verhält wie die KPdSU. Man müßte mal nachschlagen, ob irgendwo

Weitere Kostenlose Bücher