Alkor - Tagebuch 1989
her, und noch immer nicht vernarbt. Vielleicht wird das Nationale eben doch unterschätzt? Heimat? Vielleicht wird der Begriff tabuisiert, weil er stört? Ob hier nicht etwas übersehen wird, was später zu einer Katastrophe führt?
Die Bundesrepublik schickt«zur Blutsauffrischung»Deutsche
hierher, die an wichtigen Stellen Posten einnehmen, so zum Beispiel den sehr netten Büchereileiter. Wie damals in Westpreußen, aber nicht ganz so schlimm. Keiner wird sie heimholen ins Reich. - Ich kaufte in einer Bäckerei dänischen Kuchen für zu Haus, ganze Latten.
Dann bummelte ich nach Kiel. In Schleswig scherte ich aus und besichtigte das Schloß Gottorf. Zuerst die Abteilung 19. Jahrhundert, ich ging nur eben durch, um für Hildegard oder Keele Quartier zu machen. Wenn Keele mal wieder kommt, müßte ich ein paar Besichtigungsziele vorrätig haben. Nachdenklich stand ich vor den Moorleichen, ein bißchen Leder. Davor eine kräftige blonde Schülerin, die sich das anguckte.
Dann hatte ich Gelegenheit, in den durch Kaiser Wihelms Turm verunstalteten Dom zu gehen. An den Bordesholmer Altar kam ich nicht heran, dessen Figuren-Gewimmel zu den Wunderwerken menschlicher Geschicklichkeit gehört, weil es davor von Touristenfiguren wimmelte. Die Erhaltung des Doms koste 1286 Mark pro Tag, stand vorn am Eingang zu lesen. - Um für den Turm Platz zu schaffen, mußte das Schiff um ein Joch verkürzt werden. Man merkt es, es ist eben tatsächlich zu kurz. - Von dieser Begegnung mit der Vergangenheit entnahm ich nichts für die Ewigkeit. Die Moorleichen - das hat mich interessiert. Der kitschige Begriff der Totenruhe ist hier kein Thema. Die Innenstadt Schleswigs liegt sonderbar abseits, man findet sie gar nicht. Alles ganz still und menschenleer. - In einem Café eiskalten Apfelkuchen, dazu brüllend laut Radio: Verkehrsnachrichten und ähnliches. In Apenrade nahmen sie ohne weiteres deutsches Geld an, in Schleswig aber keine Kronen, die Kellnerin besah sich die Banknoten, als ob es sich um Geld von den Fidschi-Inseln handelt.
In Kiel verfuhr ich mich mordsmäßig, kam aber gutgelaunt in der Akademie an, wo ich feststellte, daß ich aus einem unveröffentlichten Manuskript lesen soll, das ich gar nicht bei mir hatte. Ich werde also vom«Echolot»erzählen.
Jetzt sitze ich im Funkhaus und bin noch nicht dran, muß mir also unter Neonlicht Hämmermusik anhören. In der Akademie
habe ich eine kleine Wohnung mit allem Drum und Dran; ich habe gleich in der Biographie des Grafen Dohna geblättert und sie für das«Echolot»zu datieren versucht. Recht interessant, diese planmäßigen Fluchtvorbereitungen. Da zeigt sich wieder einmal, daß der Wille, wenn man ihn«läßt», viel vermag. Sich treiben lassen, das ist das Rezept der Schwachen. Man muß aber wissen, was man will. Politik ist die Kunst des Möglichen - das gilt auch für die Tatkräftigen, sie wagen sich nur an das Realisierbare.
Vortrag in der Hermann-Ehlers-Stiftung. Das Honorar in Höhe von 500 Mark sei praktisch als Blumenstrauß gedacht, wurde gesagt.
Vortrags-Notizen:
Den Begriff«Echolot»erklären./Geschichte des Archivs, von der Chronik abgeleitet./Eingänge ganz verschieden./Tagebücher (Treck /Dienstmädchen 1860 / KZ) / Briefe (einzelne/ Konvolute) / Biographien (Motive: Rechtfertigung u. a.) / und Fotos, USA! Müllkippe./Fotoalben sind auch Biographien./ Als«Sammlung»ohne Leben, unauswertbar/Ich versuchte zunächst, Biographien einzeln herauszugeben (Irene Zacharias, Fuchs, Matheny). Dann kaufte ich Computer (USA, Mormonen-Ahnenforschung, Siedlertagebücher)./Idee des kollektiven Tagebuchs. Zeitraum 1943-1949./Warum? Ausgangspunkt: Das
3. Reich in seiner größten Ausdehnung. Beginn: 1. Januar 1943: Stalingrad ist noch nicht beendet. Afrikafeldzug auch noch nicht./ Ende: Gründung der«beiden deutschen Staaten».
Prinzipien haben sich herausgestellt:
Dramaturgie:
horizontal: durchgehende Geschichte, etwa Mrongovius, ein Schicksal verfolgen.
vertikal: das dialogische Prinzip, eine Aussage auf die andere beziehen.
punktuell: etwa Dresden, oder 20. Juli.
Schnell verstanden, daß die großen Namen auch mitaufgenommen werden müssen: Thomas Mann, Kokoschka (Stölzl zu danken!).
Fotos:
horizontal: Jeder bekommt briefmarkengroß ein Erkennungsporträt-Foto vor seinen Text.
punktuell: Einzelporträts./Fotos, die eine Geschichte erzählen./ Umfang: 20 000 Seiten./Nicht Tagebuch, sondern repräsentativ. /Editionsschwierigkeiten: die Kosten.
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