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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Viehwaggons / US-Botschaft von Vopos abgeriegelt/Die schreckliche Nacht von Prag / 3000 Flüchtlinge in Haft/Schwere Zusammenstöße in Dresden/… und morgen kommt Gorbatschow
    ND: Neue Produktionsanlagen nahmen den Betrieb auf

     
    Dresden: Polizisten wie Insekten mit weißen Schilden jagen Demonstranten. So etwas kann man nicht inszenieren. Das schlechte Videomaterial. - Schweren Herzens trennte ich mich von den Nachrichten über unsere Landsleute, die wie eine Springflut herüberschwappen, und fuhr mit Hildegard nach London, um hier nach Literatur für das«Echolot»zu suchen. Die letzten Bilder zeigten tschechische Polizisten, die sich an Zaunleute hängen, und von drinnen wird auch gezogen, einige versuchen sogar, durch den Zaun auf die Polizisten einzuschlagen. Ein Polizist holt ein Tränengasspray aus der Tasche und sprüht sie an, da kommt der Botschaftssekretär angeschritten und holt den Mann, der am Zaun hängt, rein. - Andere Bilder von Menschen, die den Polizeikordon durchbrechen, eine Frau in rosa Pulli fällt hin, alles stürzt über sie hinweg. So ein bißchen an den Sommer-Schlußverkauf mußte ich denken, als sie da losstürmten. Eine junge Frau mit Baby auf dem Arm und Kind an der Hand wird aufgehalten. Das Kind greift nach dem Schlagstock des Polizisten, man hört den TV-Mann sagen:«Lassen Sie sie doch durch.»-«Mammi! Mammi!», ein Kind, das schon drin ist, hinter seiner Mutter her, die abgeführt wird. Ich denke gerade, wenn wir solche Filme hätten von der Flucht 1945! - Im Fernsehen aber hier in London von all dem keine Spur. Gestern abend eine ganz kurze Sequenz: Ein deutscher Mann mit komischer Mütze wird gefragt, was er davon hält? Er sei«very proud»über diese Ereignisse. Heute früh nichts.
    In einem Film über die DDR, vorgestern: daß die Arbeiter 25 Jahre warten mußten, bis sie mal einen Erholungsplatz an der Ostsee bekamen. Und nachts wird der Strand durch Scheinwerfer erhellt.
     
    London: Wir machten zuerst eine reguläre Sightseeing-Tour in einem offenen Bus, krochen eng zusammen, wegen der Kälte. Der Bus schob sich durch die Oxford und Regent Street, der Tower sonderbar klein, das kommt davon, daß man ihn immer falsch fotografiert, wie ein Fort kam er mir vor. Die Betreuerin erzählte Stories, daß ein Käsebrot im Hilton 18 Mark kostet, und sie
zeigte den«Juwelen-Laden», wo Prinz Charles für 28 000 Pfund den Verlobungsring für seine Braut gekauft hat - wir liefen dann anschließend den Weg nochmals zu Fuß ab, Hildegard hatte den Stadtplan in der Hand und sorgte, von Menschen umbrandet, für Ordnung. Auch einen Buchladen fanden wir endlich, ein Polizist zeigte uns den Weg, sonst weit und breit keiner, dieser aber sehr groß. Absolut europäisch. Angestellte mit Krawatte. Hoffentlich akzeptieren sie die Euro-Karte. - Zurück liefen wir dann ein großes Stück, was mir überhaupt nichts ausmachte. Glücklicherweise bestiegen wir dann aber doch einen Bus (ich rutschte fast ab, weil er zu früh abfuhr) und fuhren noch ziemlich lange. Nette Fahrgäste, eine hysterische farbige Schaffnerin, sie hat so ungeheuer viel zu tun, ob wir das nicht sehen, sie kann uns keine Auskünfte erteilen. Aber das ist doch ihr Job, oder?
    Mitteilungen über die Königin: wie reich sie ist und wo sie einkauft und wie wenig Geld die normalen Bürger haben (10 000 Pfund pro Jahr).
    Das Fotografieren der Touristen hier überall ging mir sehr auf die Nerven. Das heißt, ich fand es nun wirklich lächerlich, die Männer sind es, die das machen. Besitzerstolz, was mitnehmen. Ehefrauen stehen daneben und halten die Tasche: Sie dulden es stumm. Heute Nacht intensives Studieren der Karte, wo das Goethe-Institut ist und wo ich damals rumgelaufen bin überall. Das«Echolot»ist eine ziemlich hybride Sache. Alle werden sagen: Das hätte er man lieber lassen sollen. Oder: Das hätten die Historiker besser gemacht. Hätten sie eben nicht! Die kommen dann mit Anmerkungen und Quellen und Verweisen und mit Belehrungen. Wir wollen ein besseres Buch«machen»(muß man hier schon sagen).
    Um 10 Uhr gut gefrühstückt im frühlingshaften«Breakfast-Room», mit Kunstblumen, von weiß gestrichenen Gittern hängend. Porridge.
    Und nun geht’s los. Das Erstaunliche ist, daß einen der Englisch-Unterricht damals, 1940, mit:«The chimneys stand like soldiers …»an sich doch ganz gut informiert hat. Es stimmt alles irgendwie,«The English Reader»hatte recht, mitten in der
Nazi-Zeit. Die Schiebefenster habe ich

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