Alkor - Tagebuch 1989
etwas steht über den Mechanismus von Revolutionen. Haffner in Bautzen sagte mal zu mir: Revolutionen ereignen sich nur, wenn es zuvor Mißstände gegeben hat. - Stimmt nicht ganz, denn’68 war doch bei uns alles in bester Ordnung, und trotzdem wurde gemobt.
Und 1789 waren schon Reformen eingeleitet worden, als es losging. (Deckel angehoben, Überdruck entwich.)
1914, der Kriegsausbruch - das war keine Revolution, aber viele Menschen waren der langen Friedenszeit überdrüssig. Vielleicht ist das mit’68 zu vergleichen? Der Unterschied zwischen Putsch und Revolution. Mal bei den Marxisten nachlesen, ob es eine Mechanik der Revolution gibt, eine Gesetzmäßigkeit im Ablauf.
TV: Verwischte, fast sakrale Bilder aus Leipzig von Menschenmassen in Rembrandt-Braun. Sie legen ihre Hände schützend um die Kerzen. Das wird erst auf dem Fernsehschirm zur Pose. Dort drüben ist es sehr ernst gemeint.
Auf dem Schnitzel eine Scheibe Zitrone mit einer gerollten Sardelle und drei Kapern:«Garnitur», nennt die Kellnerin das.
Nartum / Apenrade
Di 10. Oktober 1989
Bild: Lilo Pulver/Die Wahrheit über den Tod meiner Tochter
ND: Erich Honecker empfing den Leiter der Delegierten der VR China
Gestern sollen in Leipzig 70 000 demonstriert haben. Unheimlich. Die Stille über den Menschenmassen, ab und zu ferne Geräusche. Dann die Sprechchöre und zwischendurch atmende Stille. Wie nach Fliegerangriffen, das Krachen von Balken, ferne Rufe.
Lesung in Apenrade. Traurig! Die Deutschen fühlen sich von den Dänen immer noch bevormundet und schlecht behandelt. Es gab enthusiastischen Beifall und manchen bitteren Bericht unter vier Augen. Auch die Dänen haben sich nach dem Krieg ziemlich viehisch benommen. Mir wurden verschiedene Briefe und Tagebücher in Aussicht gestellt, die ich für das«Echolot»ausschlachten werde.
1999: Nichts kam.
Ich las das«Süderhaff»-Kapitel aus«Aus großer Zeit»und aus dem«Tadellöser»Svens deutschfeindliche Tiraden. Daß die Deutschen keinen Hu-morr haben zum Beispiel. Hat die Leute sehr amüsiert. Ib (Sven) hat mich später mal gefragt, warum ich ihn so dargestellt hätte. Er kann sich nicht vorstellen, daß er wirklich so war und auch heute noch so ist.
1964 in Dänemark, an der Ostsee. Als wir gerade mal im Wasser waren, haben sie unsere Sachen durcheinandergeworfen. Ich glaube, man darf heute noch nicht die deutsche Fahne in Dänemark zeigen, hinten am Auto usw. Hier läßt man das tunlichst auch bleiben. Deutsch zu sein, ist nicht in Mode. Gegen meine mecklenburgische Fahne hatte noch niemand etwas einzuwenden.
Europa - du lieber Himmel. Was ist das? Europa? Am Plausibelsten kommt mir noch die De Gaullesche Definition vom Europa der Vaterländer vor. Noch niemals bisher wurde ich eingeladen in Dänemark zu lesen, als Rostocker! Die hatten zu tun, daß sie ihre Linksautoren verdauten. Auch in Schweden, Uppsala!
Apenrade/Kiel
Mi 11. Oktober 1989
Bild: Honecker/Das war’s wohl/Neue Zeugen aus Rußland/ Ufo-Riesen hatten 3 Augen
ND: Neues Qualitätserzeugnis ging in Serienproduktion
T: Ich sitze wieder im Gefängnis; Knaus und Hildegard kommen mich in der Zelle besuchen. Während ich unter dem Fenster sitze, suchen sie in meinem Regal nach Manuskripten und wollen alles mögliche mitnehmen. Ich sag’:«Und was soll ich hier tun?»Das sehen sie ein und lassen mir meine Manuskripte, nehmen ein paar Kleinigkeiten mit, aus Brot geformte Sachen, die sie wie Monstranzen hochhalten beim Rausgehen, damit der Posten sieht, daß es nichts besonderes ist, was sie da mitnehmen.
Heute früh wanderte ich noch ein bißchen durch Apenrade und fand dort einen guten Antiquar, bei dem ich dänische Kriegsliteratur kaufte für 382 Kronen. Darunter eine ziemlich gemeine Sache: die Namensliste der dänischen Nazi-Mitglieder, mit voller Adresse ! Eine Einladung zum Fenstereinschmeißen. Übrigens ist die Liste ziemlich lang. Dem Antiquar schien das peinlich zu sein. (Kronika, Jacob; Smeding u. a.)
Gestern abend bestellte ich mir in dem nagelneuen Hotel«Europa»eine Scholle und eine Käseplatte. Die Scholle ließ ich zurückgehen, die war nicht gar. -«Wieso, die ist doch gar?»- Und der dänische Käse, auf den ich mich schon gefreut hatte, schmeckte wie Gips. - Ansonsten sind die Leute hier freundlich. Das Gebiet kam 1920 an Dänemark. Kein Thema mehr! Aber die deutschen Leute sind noch immer traurig. Wollten mir gern ihr Herz ausschütten, was sie alles erdulden müssen. 90 Jahre
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