Alkor - Tagebuch 1989
klang schon ganz passabel. Ich erinnere mich an meinen Auftritt in Gütersloh, mit Martens und Karasek, wann war es? Als der Bertelsmann-Chef dachte, ich mache Spaß, als ich von dieser Möglichkeit redete. - Ich empfahl ihm, sich um eine solche Erfindung zu kümmern, usw. … Ausgelacht haben sie mich. Proske hat mir dann später recht gegeben.
Beide Vorlesungen heute waren überfüllt. Das wirkte sich auf meine Stimmung positiv aus, ich fuhr mit Hochgefühlen nach Haus. Im Autoradio die Nachricht, daß 100 000 in Leipzig demonstriert haben. Diese kolossalen Zahlen, man giert danach. Kein Zweifel, die Wiedervereinigung rückt näher. Wenn die Mauer fällt, knie’ ich nieder, und zwar in Berlin. In der Hochschule ist von den Veränderungen da drüben nichts zu spüren. Sonst demonstrieren sie bei jeder Gelegenheit. Im Prinzip dumpfen sie vor sich hin.
Honecker ist zurückgetreten, Krenz soll sein Nachfolger sein. In Erinnerung wird seine sonderbar hohe Stimme und die verrückte Aussprache bleiben. Merkwürdig, daß sich noch immer kein Kabarettist gefunden hat, der ihn imitiert. Die sind alle auf Kohl spezialisiert. - Den Krenz sah man schon beim Elefantenmarsch, dieser«Tante Hedwig»-Polonaise, wie sie auf Senioren-Abenden üblich ist. Das wird ihm leid tun jetzt, daß er sich damals bei der Fete so hat filmen lassen.
Wirsingkohl mit geräuchertem Schweinespeck. Sehr lecker.
Nartum
Mi 18. Oktober 1989
Bild: 150 000 in Leipzig/Erich, geh ins Altersheim/Putzfrau gewann 3,9 Mio. im Lotto/Jetzt nehm ich mir’ne Putzfrau
ND: Mit der Wahrheit leben und Lösungswege für angestaute Fragen suchen
Ein Herr Kleister vom Johannes-R.-Becher-Institut in Leipzig kam nach Oldenburg. Eine private Sache. Wir wurden eingeladen, weil ich mich doch ebenfalls«um die Ausbildung der jungen Schriftsteller kümmerte …»Er ist Lektor oder Dozent am besagten Institut, an einer Kaderschmiede also. Traurige, fruchtlose Debatte. Ich bekannte mich als einer, der sehnsüchtig auf die Wiedervereinigung wartet, da fuhren sie zusammen (Christiane Dierks guckte mich an, ob ich noch richtig im Kopf bin) und schwenkten dann aber ein bißchen um, es war so, als ob sie zum ersten Mal in ihrem Leben darüber nachgedacht hätten. Einer rief:«Anschluß?»in die Debatte. - Daß die Presse hier«hetzt», wie sie sagten, kann ich überhaupt nicht finden, sie hält sich im Gegensatz zu denen da drüben eher zurück. Heute kam die Meldung über die 120 000, die in Leipzig demonstriert haben, an dritter Stelle in den Nachrichten. - Ich fragte Herrn Kleister, wann sie denn nun ihr Institut umbenennen? Johannes R. Becher? Der mit seinen Stalin-Gedichten?
Was Stalin angeht: Ich denke da an die Porträts der großen Führer an der Kommandantur in Rostock. Leider hat das niemand fotografiert. Dazu die plärrende Musik aus den Lautsprechern, Tag und Nacht - irgendwelche Heldengesänge.
Nartum
Do 19. Oktober 1989
Bild: Honecker/Es ist aus/Na also, Erich!/Die 15 Sekunden von San Francisco
ND: 9. Tagung des Zentralkomitees der SED/Erklärung des Genossen Erich Honecker/Rede des Genossen Egon Krenz/«Unsere Macht ist die Macht der Arbeiterklasse»
Herrliches Wetter. Erdbeben in San Francisco.
Hildegard holte mir ein Stück Himmeltorte aus Zeven. In der Früh’ gab es ein Ei.
Der Herr aus der DDR meinte gestern, ihm machten alle Rowdies Angst, die die Protestbewegung ausnutzten für Exzesse. - Von Exzessen habe ich noch nichts gehört. Von den Exzessen der Stasi hat er nichts gesagt, darauf mußte ich ihn erst hinweisen. Die Symmetrie der Ereignisse. Heute hat die SED gefordert, die Demonstrationen müßten gewaltfrei sein. Was man von den Untersuchungskellern der Stasi hört, klingt aber nicht sehr friedlich. - Wieviel Studenten Herr Kleister wohl im Laufe der Jahre von seiner Anstalt gewiesen hat? Vielleicht waren sie ja auch alle ganz brav. - Die Bewegung da drüben hat keinen«Kopf», die charismatische Figur fehlt.
Sie können uns doch nicht die Sehnsucht nach der Heimat übelnehmen. Der Unterschied zwischen dem Zuhause und der Heimat.
Ziemlich sofort wird uns auch gesagt, daß der kleine SED-Mann nicht behelligt werden dürfe. Ja, ja, so ist es. Ich wünsche den Revolutionären ein gutes Gedächtnis. Die Tausende in den Haftanstalten sollten nicht vergessen werden. Heute geht es nicht mehr
um Zivilcourage. Schade, daß man nicht rüberfahren darf. Ich würde gern dabeisein.
Radio-Lyrik in den Nachrichten über San Francisco.
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