Alkor - Tagebuch 1989
Großfeuer wüten, Wagen werden in die Tiefe gerissen usw. Da geben die Redakteure alles. Vielleicht hoffen sie, daß S.F. jetzt absolut untergeht, damit sie was zu berichten haben. Sie sehnen die Katastrophe herbei. Eigentlich ist sie schon da, sie müssen nur noch ein bißchen reden.
O-Ton-Nachrichten:
9 Uhr, San Francisco. Nord-Kalifornien ist in der vergangenen Nacht von einem schweren Erdbeben heimgesucht worden. Der Korrespondent des NDR spricht von mindestens 283 Toten, örtliche Radiostationen von 400 und mehr. Niemand weiß zur Stunde , wieviele Menschen in den Trümmern verschüttet sind. San Francisco und Oakland bieten ein Bild der Zerstörung , Straßen sind aufgerissen, Gebäude eingestürzt. Mindestens 200 Menschen starben in ihren Autos, als die Autobahn von San Francisco völlig zusammenbrach . Die Stadt liegt im Dunkeln, weil die Stromversorgung weitgehend ausgefallen ist. In vielen Stadtteilen wüten Großbrände, vermutlich wurden sie von geborstenen Gasleitungen ausgelöst. In den Krankenhäusern soll Chaos herrschen. Wie durch ein Wunder brach in einem mit fast 60 000 Menschen besetzten Baseball-Stadion keine Panik aus, als das Beben begann. Aus den kleineren Städten im Katastrophengebiet liegen noch immer keine Meldungen vor. Der Erdstoß um 1 Uhr 4 mitteleuropäischer Zeit hatte die Stärke 7 auf der nach oben offenen Richterskala. Es dauerte etwa 15 Sekunden. Die Erschütterungen waren bis Los Angeles, etwa 650 Kilometer südlich von San Francisco, zu spüren.»
In der ersten Fassung hatten sie von den Polizeisirenen gesprochen, die schauerlich durch die Straßen hallen.
Die bemerkenswerten Ausdrücke habe ich hervorgehoben. Die nach oben offene Richterskala.
Am Nachmittag kam ein Herr Rethmeier vom Dietz Verlag (West). Wir haben verschiedene Biographien bekakelt, die er eventuell herausgeben könnte: Kupfer, Zimmermann, Pabel, Schnibbe, Kapitän Schulz.
Biographien, die hier schon lange liegen, die Knaus nicht machen wollte.
1999: Nie wieder was von dem Mann gehört.
Auch Simone kam, die allmählich in ihren Job hineinwächst. Sie brachte die Nachricht von Honeckers Rücktritt mit. Am Abend diverse Aufnahmen des brutal wirkenden Krenz. Alles sehr spannend.
Schöne Herbsttage. Ich ging zweimal eine halbe Stunde meine Runden. Daß der kleine Brunnen immer abgestellt wird, wenn ich den Rücken drehe. Diesen tröpfelnden Luxus gönnen sie mir und den Vögelchen nicht. Es muß gespart werden.
Ich spüre den Zugwind eines vorüberfliegenden Vogels an der Wange. - Die schwarze Drossel, die vom Brunnen weghuschte, als ich um die Ecke kam.
Nartum
Fr 20. Oktober 1989
Bild: 2,2 Millionen!/Hat Leo Kirch TV-Chef bestochen?/Früh um acht kamen 6 Staatsanwälte, 6 Polizisten und Steuerfahnder /Der flotte Egon/Honeckers Nachfolger: Jaguar, Marmor, gefärbte Haare, fesche Mädels aus der FDJ - und lieber ein Glas Wodka als Glasnost
ND: Beratung mit Arbeitern: Damit viel für unsere Republik herauskommt / Egon Krenz im VEB«7. Oktober»Berlin
Das Herz der Stadt San Francisco habe aufgehört zu schlagen.«Sternklare Nacht»,«stockdunkel»,«Autos begraben»,«nächtliche Stunden»- die blumige Sprache der Journalisten, mit der sie der Gefühle Herr zu werden versuchen, die sie nicht haben. Unter den Trümmern habe sich noch eine Hand bewegt.
Die politische Entwicklung ist spannender als jeder Kriminalroman. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Krenz es«packen»
will und aus dem Grunde auch nicht packen wird. Er ist dieser grobschlächtige norddeutsche Typ, den wir schon kennen. Norddeutsch plus SED, das ist eine üble Mischung. Also, wenn ich mal was vorhersagen darf: Er wird versuchen, die Leute hinzuhalten, alles zu blockieren. Das wird die Wut der Menschen noch mehr anfachen, und es wird zu«Ausschreitungen»von beiden Seiten kommen.
Im TV eine Fernseh-Tante (Ost), sie überreicht Krenz Blumen und sagt:«Das Massenmedium Fernsehen gratuliert Ihnen herzlich, Genosse Krenz.»- Eine«Sondersendung»: Im Hintergrund ein Bilderrahmen, aus dem das Bild Honeckers halb heraushängt. Albertz hat die Leute aus der DDR, die jetzt zu uns kommen, als«angepaßte Aufsteiger»bezeichnet. Ziemlich arrogant für einen Kirchenmann. Es gibt eine sozialistische Denk-Geographie, die mir ewig unverständlich bleibt. Über den Begriff«Anpassung»lohnte es sich nachzudenken - ein Land, in dem es nur Unangepaßte gibt, würde bald aufhören zu existieren -, und darüber, was es bedeutet für die
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