Alkor - Tagebuch 1989
Gesellschaft, daß es Menschen gibt, junge, die aufsteigen wollen. - Gestern demonstrierende Massen. Ein Gorbatschow-Bild wird hochgehalten, Stasi-Leute versuchen, es dem Mann aus der Hand zu reißen.
Gestern rief der ehemalige Wohnungsbauminister Schneider an, ob ich in der bayerischen Vertretung in Bonn nicht einen Vortrag halten kann. Ich bot ihm den«Echolot»-Vortrag an, den ich in Berlin gehalten habe.
Ich denke eben gerade, daß ich mir Renate überhaupt nicht im Brautkleid vorstellen kann.
Ich habe im«Echolot»jetzt den Februar’43 begonnen. Der Januar ist nun schon dialogisch aufgebaut. Es fehlen immer noch anonyme Biographien. Die«offiziellen»sind noch in der Überzahl.
Außerdem habe ich eine Rubrik PG eingerichtet. Eine Frau berichtet, was sie als ehemalige Parteigenossin 1947 erlebt. Hierfür weiteres erfragen! - Eine Frau aus Wilhelmshaven beschwert sich über den Kadavergehorsam der Deutschen, daß alle Leute schwer ächzend Papier, Flaschen usw. zum Iglo schleppen, anstatt
die Industrie aufzufordern, das Zeug abzuholen.«Wahrscheinlich ersetzen wir den Begriff Vaterland durch Umwelt .»Die Leute, die an dem Recycling verdienten, hätten bestimmt keine Klowasserteilsperrung.«Da wird der Po noch geduscht und energieverschwendend warmgefächelt; das Papier ist keineswegs aus vom Volk gesammelten recycelten Zeitungen, sondern beste, gesoftete, geprägte und blümierte Klo-Rolle.»
Würziger, sehr milder Rosenkohl, der mir gut bekommen ist.
Nartum
Sa 21. Oktober 1989
Bild: Geisternebel/5 Urlauber im Watt - alle tot
ND: Offene Debatte um aktuelle Fragen der Gesellschaft
T: In der Nacht hatte ich es mit Stalin und Eisenhower zu tun. Träume sind fliegende Teppiche, die aus der Unterwelt kommen.
Krenz benimmt sich wie ein schauspielernder Arzt, der dem Patienten zuredet, es sei doch gar nicht so schlimm. - 60 000 sind jetzt über Ungarn und Polen gekommen. Gestern wieder 20 000 Demonstranten in Dresden.
Ein widerlicher Telefon-Anruf. Ein Mensch, der Gewese um sein Manuskript macht, ein Psychopath. Obwohl ich es gelesen habe und dies und das, stellt er sich irgendwie quer: Er habe doch nur eine persönliche Beratung haben wollen und nicht dies und das usw. Schrecklich! Eine halbe Stunde Telefon! Ich werde mich von dem Ding sofort trennen.
Gestern Talk-Show: Ja! Die Deutschen da drüben zeigten erste Ansätze eines DDR-Bewußtseins! - Na, wundervoll!
Die Kühe auf der Wiese vor meinem Schreibtisch - wozu brauche ich da ein Aquarium?
Ein Buch schreiben unter dem Titel:«Die andere Nation», über Gefangene ganz allgemein, wie sie reagieren. Das Gemeinsame ihrer Lage. Die Internationale der Häftlinge. Eventuell auch über
KZ, und zwar ganz genau die Lebensumstände in den verschiedenen KZs, Rationen usw. Tatsachenforschung.
Ich finde es abstoßend, daß Erika und Klaus Mann auf englisch miteinander korrespondierten. Aber es geht mich ja nichts an. Mir ist nur unbegreiflich, daß die beiden hier so hoch im Kurs stehen.
Räucherfisch.
Kalt, Regen, goldenes Laub. Quittengeruch im Haus und Äpfel. Angst vorm Einschlafen. - Die Träume flitzen davon.
Nartum
So 22. Oktober 1989
Welt am Sonntag: Seiters: Bundesregierung will bald mit Krenz sprechen/ Gorbatschow lädt SED-Chef nach Moskau ein / Wieder Massendemonstration in der DDR
Sonntag: Für geistige Erneuerung. Tagung des Präsidiums des Kulturbundes am 9. Oktober 1989. Notiert von Charlotte Groh
TV: Kuby mit Gaus im Gespräch. - Er verachtet am meisten die Dummheit, sagt er. Wie kann man denn Menschen wegen eines Defektes verachten! Deutschland kann ihm gar nicht oft genug geteilt sein, sagt Kuby. Damit hat er sogar recht. Unser Bestes zogen wir immer aus dem Föderalismus. Aber zweigeteilt ist unerträglich. - Dies gälte dann übrigens auch für Europa.
Drei Holländer zu Besuch, ganz intelligente Leute, weiß nicht, was sie eigentlich wollten. Schimpften kein bißchen auf uns. Hildegard hat einen kleinen gelben Ballon gegen Tiefflieger aufsteigen lassen. Herr Schönherr meint, Tiefflieger seien ihm nicht so unangenehm wie Kommunisten. - Und solange wir Tiefflieger haben, kommen die Kommunisten nicht. Daß sie allerdings so tief fliegen, ist nicht in Ordnung. Die davonpreschenden Kühe.«Echolot»: Heute viel eingegeben. Schreckliche Sachen über Stalingrad. - Die Briefe der Frau Kreuder erweisen sich als wahre
Goldgrube. Hildegard bereitet sie vor und diktiert sie mir dann. Der Bildungsbetrieb in Erlangen - wunderbar.
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