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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Autoblockade durch die Fußballer, und wenn wir im Garten Kaffee tranken, pinkelten sie an unsere Stauden.
    Hans Brecht rief an, er will mir Material fürs«Echolot»schicken,«Gomorrha»(Großangriff auf Hamburg), da hat er noch die Befragungsunterlagen.
    Gestern Hannover-Eilenriede, 17 Uhr, Altersheim. Ich las aus«Aus großer Zeit»und«Schöne Aussicht». Eigenes Café, eigenes Restaurant. Irgendwann müssen wir wohl auch in den sauren Apfel beißen. Eine alte Dame redete mir zu, als ich davon sprach. Sie hoffte wohl, ich würde hier nächste Woche antanzen?!
    Korridor mit Fotos der Alten aus ihrer Jugendzeit. Die Heimbewohner waren aufgefordert, die Leute auf den Fotos zu identifizieren. Hübsche Idee, auf so was kamen wir in Bautzen auch.

Nartum
Sa 4. November 1989
    Bild: Künstlich ernährt, ständig Blutwäsche, Morphium/Honecker - es geht zu Ende
    ND: Fernseh- und Rundfunkansprache von Egon Krenz an die Bürger der DDR
     
    Gegen Mittag hatte ich einen Schwächeanfall, sonderbar die Blutleere im Gehirn. Alles wich von mir. Ich dachte immer: Jetzt fällst du gleich um. Ich schwankte wie in einer Kajüte und mußte mich hinlegen. Hildegard ging nebenan auf und ab. Sie kriegte den Ernst der Lage nicht mit. So wie ich. Theatralische Vorstellungen machten die Runde. Ob solche Anwandlungen bereits Vorspiele sind? Skizzen des dann Endgültigen? - Der Fontane-Tod mag sich ähnlich ereignet haben.
     
    Ob ich Kalbshirn essen möchte, fragte mich der Kellner. Gekochte Masthuhnbrust, die aussah, als hätte man mir menschliche Kröpfe vorgesetzt, die von einer Sektion stammten. Schob alles weg. Der Geschäftsführer bedauerte meinen Ekel und spendierte mir einen Kaffee.
    Die Leiris-Tagebücher aus Afrika. Schon 1934 erschienen und jetzt erst bei uns. Was rege ich mich auf, daß meine Bücher nicht übersetzt werden? Man liest von Zentralafrika, als sei von einem andern Stern die Rede. Afrika, wie hat man es verhunzt. Zuerst die sogenannten Kolonialmächte, dann die Entwicklungshelfer (was für eine Hybris, diesen Erdteil«entwickeln»zu wollen!), schließlich die Marxisten. Leiris:
    Jetzt endlich liebe ich Afrika. Die Kinder machen auf mich einen Eindruck von Munterkeit und Leben, wie ich ihn nirgendwo sonst gehabt habe. Das geht mir unendlich nahe.
    Das ist Kultur, daß man es sich leisten kann, solche Bücher nicht zu lesen. Leiris hat übrigens die Veröffentlichung der wissenschaftlichen Ausbeute seiner Expedition von dem Tagebuch getrennt. Er schreibt von einer Eisenbahnlinie, die die Franzosen
für 300 Millionen Francs gebaut haben, auf der kaum ein Zug fährt. Die vielbefahrene Straße, die direkt daneben verläuft, verkommt. Auch mein«Echolot»wird von der Chronik zu trennen sein. Die Leser werden sich scheiden an diesen beiden Brokken. Instinktiv zählen sie mein Hitler-Buch und«Haben Sie davon gewußt?»nicht zur Chronik. Nicht einmal mein Verleger hat es akzeptiert, daß beides zusammengehört. Für den sind das Fehltritte.

Nartum
So 5. November 1989
    Welt am Sonntag: Live im Ost-TV: Millionen-Protest gegen Krenz und die SED/Rücktritt der Regierung gefordert/Honecker des Verbrechens beschuldigt
    Sonntag: Gutgemeint ist das Gegenteil von wahr. Rede zur Geschichte, gehalten im Schriftstellerverband der DDR am 14. September 1989. Von Christoph Hein
     
    Vorgestern war eine Riesen-Demonstration in Ost-Berlin, sie haben die Fassade des Regierungsgebäudes mit Parolen vollgekleistert. Künstler hatten dazu aufgerufen. Das Rednerpult sah aus wie ein grob zusammengezimmertes Schafott. Heym gab sich ganz als weiser Vater, und Christa Wolf hat von«Wendehälsen»gesprochen, daß das eine besondere Art von Vögeln sei. So ganz wohl war ihr bei diesem Auftritt nicht, das konnte man merken, doch das Publikum war fair, es hat sie nicht ausgepfiffen. (Sie benutzte auch abstruse Bilder, beim Segeln z. B., da gäbe es auch Wendemanöver, und wer da nicht aufpasse, dem knalle der Segelbalken an den Kopf. Und was die Wendehälse beträfe, da habe sie im Lexikon nachgeguckt.) Ausgepfiffen wurde Markus Wolf, als er sagte, daß er der SED-Regierung 30 Jahre lang als Stasi-General gedient habe. Was ihn wohl bewogen hat, sich auf die Rednerliste setzen zu lassen. So was nennt man Flucht nach vorn. - Eine aristokratische Erscheinung, Typ Reichswehr-Offizier. Sein
Bruder kam sich in der Offiziersuniform der Roten Armee wohl ziemlich schick vor. Auch andere ernteten Pfiffe, ansonsten blieb die Menge fast schafsmäßig friedlich.

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