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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Die fehlende Leidenschaft kann man nicht durch das Aufmarschieren von Volksmassen ersetzen.
    In seinem Kommentar (ZDF) hatte Peter Voß den Mut, die fintenreichen Formulierungen zu geißeln, die unsere Politiker vom Stapel lassen, wenn sie auf Wiedervereinigung zu sprechen kommen. Keiner will sich so recht vorwagen:«Absichern»heißt auch hier die Devise.
    Der friedliche Ablauf der Demonstrationen steht im Widerspruch zu dem, was die Menschen erduldet haben. Da kommt der Verdacht auf, daß es vielleicht gar nicht so schlimm gewesen sei, was sie«durchgemacht»haben. Revolution in Form einer Volksbelustigung.
    Emotionen sind eher bei den«Ausreisern»zu beobachten - gestern wieder 6000 aus Prag. - Man denke auch an 1956, die Abrechnung mit den Kommunisten damals in Ungarn. Da haben sie ja welche aufgehängt.
    Was jetzt an der Grenze zur DDR geschieht, ist bewegend. Man sah eine fünf Kilometer lange Doppelschlange von Trabis, 15 000 Leute sind rübergekommen, fast ausschließlich junge Leute. Das sind so Menschen, wie sie im vorigen Jahrhundert nach Amerika auswanderten. - Man hätte hinfahren sollen. - Wer die Bilder gesehen hat, der wird vielleicht auch an Hysterie denken.
    Wie es scheint, sind die Werbesendungen im Fernsehen die wirksamste Propaganda für den freien Westen. In punkto Verlogenheit sind sie zu vergleichen mit der Propaganda des Arbeiter-und Bauernstaates. In der DDR ist inzwischen das Reisegesetz verkündet worden (wie 1953!), mal sehen, wie sich das auswirkt. Vorwerfen kann man es niemandem, daß er das Land verläßt. - Viel Kitschiges am Mikrophon.
    Traurig, daß niemand mehr auf dem Bahnsteig stand. Aber wir können ja auch nicht wochenlang jubeln. - Meist«einfache»Leute im Zug, so weit man sehen konnte. Ostzonale Jeans tragen sie und Aktenkoffer.

    Horowitz ist gestorben. Seine herrische Frau, und immer hatte er einen Tropfen unter der Nase. Barbara Valentin fuhr extra nach New York, um ihn zu hören, die Eintrittskarte war im Flugpreis inbegriffen.
    Hilde Domin im Fernsehen. Ganz in Gelb. Eine Emigrantin, hat als Lehrerin in England gearbeitet. Wie alt mag sie sein?
    Tennis-Nachwuchs, Steffi-Graf-Cup. Wer sich über Autoren-Honorare aufregt, sollte sich zunächst mal mit den Preisgeldern von Tenniskünstlern befassen. Hübsch ist sie ja wirklich nicht, aber dieses federnde Aufhüpfen mit beiden Beinen gleichzeitig … Was die wohl für perverse Briefe kriegt. Ob sie die mal einer Forschungsstelle zur Verfügung stellt?
    Die Schwiegermutter war auch hier, ein Häufchen nur noch, ein Häufchen mit Charme und gutem Schmuck. Sie fährt nicht gern wieder nach Haus, sagt sie, sie bliebe lieber hier. - Tja, Gott!
    Hildegard hat eine Engelsgeduld mit ihr. Ich laufe da eher mal aus dem Ruder. - Ich gab ihr einen Kasten mit Dias und bat sie, die Dinger abzustauben, da meinte sie, das sei Sklavenarbeit.
    Wenn man gegen Menschen«was hat», sich Kinderbilder von ihnen zeigen lassen.
    Ein holländisches Ehepaar, Interview wegen meines Besuchs dort.
    Im TV: ein langer Heulfilm mit Judy Winter.
    Steak, Kartoffelmus, geschmorten Chicorée, und dazu Kürbiskompott. Lecker.

Nartum
Mo 6. November 1989
    Bild : Die Diktatur bricht zusammen/Sie lachen Krenz aus
    ND: Entwurf des Gesetzes über Reisen ins Ausland/Protestdemonstration von 500 000 im Zentrum Berlins
     
    Ich habe so viele Ideen und Pläne, daß ich zum ersten Mal das Gefühl habe, verrückt zu werden. In meinem Kopf spielt ununterbrochen
ein elektrisches Klavier, ohne daß ich es höre, aber ich sehe die Tasten! (Renoir:«Die Spielregel».) Das geht schon beim Aufstehen los: alles in fliegender Hast! Pinkeln und Zähneputzen gleichzeitig, kämmen beim Runtergehen und Schuhe zumachen unterm Frühstückstisch.
    Heute begrüßte ich den Munterhund vor Hildegard, damit ich das bloß nicht vergesse, das wurde mit Recht schwerstens beanstandet. - Immer wieder ordne ich meine Xylophonhölzchen, versuche die Pläne in vordringliche und weniger eilige zu sortieren. Sich auch noch das«Echolot»aufzuhalsen, einen Moloch, der meine Kräfte aufzehrt. Aber es ist interessant, und wenn ich mich morgens entscheiden soll: Dorfroman,«Sirius»oder«Echolot», dann treibt’s mich immer zu den Toten. - Dazu kommen die Vorbereitungen für die Seminare und Vorlesungen, Post, Lesungen … Es gibt kein Entrinnen. Und alles ist dringend.
    Der edle Mechaniker von«Olivetti»war da. Heute hatte er wiederum einen besonderen Anzug an und spezielle Schuhe. - Das Schreibdings

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