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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Und hier bei uns kein
Wort von«Wiedervereinigung». Die Zigtausende, die kommen, vollziehen sie auf ihre Weise.«Nicht dran rühren», denken alle. Als ob das was Unanständiges wäre, Wiedervereinigung. Das ist doch das Normalste von der Welt.
    Der Buchhändler beschrieb mir den Auftritt Reiner Kunzes. Der habe beim Vorlesen heftig gestikuliert, und jedes Wort mit langer Pause gesprochen. Er habe sich über sein sonderbares Zähnefletschen gewundert. Es sei immer so, als ob er der Welt, nein, sich selbst, die Zähne zeigen will.
    Helga Novak habe dauernd im Buch geblättert, mal hinten, mal vorn, hier ein Stück gelesen, dort ein Stück, das habe überhaupt keinen Zusammenhang gehabt.
    Oldenburg: Die Veranstaltungen haben jetzt etwas Triumphales an sich. Besonders die pädagogischen Vorlesungen, 60 Studentinnen, vier Studenten, alles Erstsemestrige, die sich offensichtlich über und auf mich freuen. Bei mir gäb’s immer was zu lachen, sagen sie.

Nartum
Do 9. November 1989
    Bild: Wende für Deutschland?/Freie Wahlen/Das Volk hat gesiegt
    ND: 10. Tagung des Zentralkomitees des ZK der SED hat in Berlin begonnen
     
    Mitternacht, am Radio: An den Grenzübergängen stauen sich Tausende von DDR-Leuten, die rüberwollen, die Grenzen sind geöffnet worden. Die Polizei weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. - Die Mauer könnte also fallen. -«Wiedervereinigung»scheint ein Reizwort zu sein, bei dem manche Leute in die Luft gehen. Warum, weiß der liebe Himmel. Jedes andere Land der Welt würde verrückt vor Freude werden. Leute, die im Osten in einer Kneipe saßen, sind einfach rübergegangen. Ohne Gepäck, so, wie sie gerade auf der Straße gingen, ohne Visum.
    Grenzer haben …/Glücklich, in Tränen./Küssen sich./Wollen gar nicht bleiben, sagen sie:«Und morgen wird wieda jearbeitet! »/Auch in Gegenrichtung, Leute, die jahrelang nicht drüben waren./Zwei Jungen wollen bloß mal gucken./Bornholmer Straße, eben mal von Ost nach West./Tausende bereits./Für Tausende unvorstellbar./Sehr aufregend./Geschafft?/Kohl will seine Polen-Tour abbrechen.
     
    1 Uhr
    Einige tausend Menschen von Beamten nicht mehr aufgehalten,«unbeschreibliche Szenen». /Sekt und Blumen von Westberlinern, Verkehr«kommt zum Erliegen»./Viele wollen nur besuchen. /Strom auch in entgegengesetzter Richtung./
    Andere Sender im Radio dudeln ruhig weiter, ohne auf diese Wahnsinnssache zu reagieren. /Auch in Schirnding Menschenstrom. / 3000 bis 4000 Menschen stündlich, letzte zehn Stunden 6000 Menschen./Leute sind nicht mehr zu zählen.
    1.10 Uhr
     
    Sender unterbricht«wegen der besonderen Ereignisse»! Wie bei Orson Welles./Erstaunlich, unglaublich./Das ist doch die Wiedervereinigung. Ob da nun eine Grenze dazwischen ist oder nicht./Verstehe überhaupt nicht die Argumente der Sozis./«Seit sechs Stunden ist die Grenze offen!»/Die meisten kommen nur, um mal zu gucken./«Ich rufe Axel Berchel … Grenze ist an beiden Seiten offen. Westberlin bis Friedrichstraße durchgelaufen. »/Vopos kriegen Blumen in die Hand gedrückt zum Gruppenbild./Kein Durchkommen./Invalidenstraße./«Lässig»sei das./Kein Paß, kein Ausweis, einfach durchgelaufen./ Kontrolle kann nicht mehr stattfinden. / Mauer sei heute gefallen. /»Wir müssen Hände schütteln», sagt der Rundfunkmann. /Stimmung sei riesig./Brandenburger Tor: Stimmung angefacht./Bierflaschen und Gröhlen, weil man da nicht über die Mauer …/Das sei das größte Ereignis der letzten Jahrhunderte.

    1.20 Uhr
    Runtergelaufen an den Fernseher, ein völlig unbekannter Reporter, wohl Journalist vom Dienst, cool, aber mit Herz.
    Tagesschau: Bush:«Dramatische Entwicklung», in dieser Richtung äußere sich auch Frankreich. Warschau: Das sei die Wiedervereinigung.
    Volksfeststimmung./Invalidenstraße./Applaudierende Vopos in den Türmen./Nur mal eben die Tante besuchen, dem Jungen den Ku’damm zeigen./19.34 Uhr hatten die«Bürger der DDR»von der neuen Regelung erfahren, angeblich ein Versehen von Schabowski, er wird gezeigt, wie man ihm den Zettel reicht: Buchstabiert da was zusammen, was er gar nicht richtig kapiert.
    Sondersendung angekündigt./Japaner fragt: Was wird mit der Mauer?/Kohl in Warschau äußert sich./Alles sehr aufgeregt. Lösung liege bei der DDR. Wir seien bereit./Die Grünen«freuen sich», sagen sie, süß-saures Gewese, und die Sozialdemokraten gucken«ziemlich dämlich aus der Wäsche»./Mischnick: Bewährungsprobe steht uns noch bevor, nicht kleinkariert aufrechnen. /Momper:

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