Alkor - Tagebuch 1989
funktioniert wieder mal nicht. Urtümlicher Apparat. Reparaturkosten: 136 Mark!
2000: Jetzt ist das Dings bereits museumsreif. Eine an den Rechner angeschlossene automatische Schreibmaschine!
Ein junger Mann am Telefon, er habe meine Filme damals mit Begeisterung gesehen, und nun habe man ihm die Bücher geschenkt, und da sei er schwer enttäuscht, daß vorne drin steht:«Alles frei erfunden!»- Eine Frau fragte: Sie wolle mir gern die Erinnerungen ihres Urgroßvaters überlassen. Aber sei das denn erlaubt? Wegen des Datenschutzes? Menschen, die sich selbst nicht über den Weg trauen. Und dabei hat sich der Urgroßvater drüben bereits aufgerichtet in seinem Schlammbett und hat gesagt: Hört ihr?! Man verlangt nach mir.
Seelen in Aspik. Wie einen Würfel nehme ich die weißen, gefrorenen Seelen aus dem Kühlschrank und taue sie auf. Es sind weiße Schlangen, die sehr lebhaft werden können.
TV: Horowitz. Ich kann es verstehen, daß Rubinstein, Casals
und Horowitz nicht nach Deutschland kommen woll(t)en, nie und nimmermehr. Von Rubinstein hört man, daß 50 Familienmitglieder ermordet worden sind. - Überfallartig schockieren mich immer wieder die nackten Tatsachen der wirklich einzigartigen Vorgänge damals. Und ich erinnere mich natürlich an die warme Wohnstube, daß ich am Radio saß und«Kinderstunde»hörte, während sie ins Krematorium getrieben wurden. - Es steht mir nicht zu zu sagen: Ich kann es verstehen, daß ihr nicht in das Land der Mörder reisen wollt, aber wie sonderbar, liebe Freunde, daß Ihr die Kompositionen der Deutschen zu spielen jedoch nicht ablehnt … Horowitz war übrigens in Deutschland, nach seiner 13jährigen Konzertpause, er hat in Hamburg im Hotel Atlantik gewohnt.
Ja, ich kann es alles verstehen, und ich wundere mich darüber, daß sie uns in ihrer Verbitterung nicht totschlagen. Tragisch ist es, daß gerade jetzt die Deutschen ihre Bindung zu Gott, diesem trigonometrischen Punkt, verlieren, der allein helfen könnte beim Bewältigen des nicht zu Bewältigenden. Sie haben die Leinen gekappt und treiben nun den Fluß hinunter auf die Fälle zu.
Nartum
Di 7. November 1989
Bild: Gottschalk adoptiert Baby / Der Kinderhändler verlangt 50 000 Mark
ND: Roter Oktober stieß das Tor zur Erneuerung der Welt auf
Lesung in Hamburg, in der Autorenvereinigung. Es war übervoll, beängstigendes Gedränge.
Heute kam: Schenck:«Patient Hitler», 68 Mark. Gute Ergänzung zu Morell; er bringt eine Röntgenaufnahme von Hitlers Schädel, für das«Echolot»wichtig. Von dem Mann, der sich selbst vor seinem Arzt niemals nackt zeigte, existiert also die Röntgenaufnahme seines Kopfes. - Bei Einläufen mußte ihm Morell den Apparat über die Klotür reichen.
Ironie bezieht sich ein, Zynismus hat bereits aufgegeben. Wieso ist es eigentlich ein Makel, daß man nicht liebesfähig ist? So was kann doch passieren? Dem Einäugigen wird man das doch nicht vorwerfen, daß er nur ein Auge hat? Das sind so Leute mit einer dicken Haut, denen man Nadeln reinstechen kann, ohne daß sie es merken? Wieso ist es in diesem Sinne hervorhebenswert, daß jemand«unfähig zu hassen»ist?
Ich kann es auch nicht verstehen, daß man Cholerikern ihren Jähzorn vorwirft. Man sollte doch froh sein, daß der Vulkan den Überdruck freigibt. Wie beim Niesen.
Nartum
Mi 8. November 1989
Bild: Krenz am Ende/DDR-Regierung zurückgetreten. Jetzt das Politbüro?/Und die Menschen fliehen weiter: 35 000 sind da, noch 45 000 warten vor der Grenze
ND: Ministerrat der DDR hat beschlossen, zurückzutreten
Flüchtlingsfluten. - Heute kamen 11 000 Menschen aus der DDR, seit Sonnabend 50 000. Das hat was von Hysterie an sich. - Die Gesichter, die man zu sehen kriegt, ähneln einander, junge Leute zwischen 18 und 32, Jeans, Männer mit Oberlippenbärten, Frauen mit Kind auf der Hüfte. Sie glauben nicht an die Versprechungen des SED-Staates, dessen Repräsentanten sich«schuldig»fühlen, wie sie sagen, ohne allerdings Konsequenzen zu ziehen. Heute sind sie alle zurückgetreten und z. T. wieder vorgetreten. Ohne freie Wahlen geht es nicht, und mit wird es schwierig für die Bonzen werden oder«eng», wie man so sagt. - Frau Bohley wirkt schüchtern und so, als ob sie gerade geweint hätte, tranceartig spricht sie. Merkwürdig. Keinen einzigen Namen kennt man.
Die tschechischen Bahnbeamten haben beanstandet, daß die Deutschen ihr Ostgeld aus dem Fenster geschmissen haben, die«Chips», wie das Kleingeld genannt wird.
Weitere Kostenlose Bücher