Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
telefonieren.
    Hädrich hatte wohl auch nicht das rechte Interesse. Immerhin ließ er sich damals die«Marianne-Seiten»kommen. Wollte die«Hundstage»-Situation«von draußen»kommentieren.
    Heute habe ich schon wieder das Wort«Wiedervereinigung»gehört. Dieses Mal hat ein amerikanischer Nato-Mensch es positiv gebraucht. Krenz ist in Moskau. Er will dort von der SU lernen, was die bei der Perestroika falsch gemacht haben. Von der SU lernen heißt: siegen lernen! Der FDJler schlägt wieder durch, er möchte das Abzeichen für gutes Wissen als goldenen Halsorden tragen.
Am Abend sah oder hörte ich eine interessante Diskussion zwischen Kunert, Freya Klier und Steinert und anderen aus der DDR über den aktuellen Stand der Dinge. Kunert sagte, wenn sich dort nicht bald was ändert, verfestigt sich die Sache wieder. Die Rolle der Kirche werde überbewertet, die stellten nur die Räume, sonst hätte sie nichts damit zu tun. Die Moderatorin sprach von der russischen«November-Revolution», verglich die 68er-Krawalle mit den Aufmärschen jetzt drüben und dachte, der Ausdruck«real existierender Sozialismus»sei eine Verspottung der DDR durch den Westen und gab ähnlichen Unfug mehr von sich. Als Kunert auf die Wiedervereinigung zu sprechen kam, daß wir die Sachsen und Thüringer hier gut brauchen könnten, kam sie sofort mit dem«Anschluß»-Argument, womit Faschistisches gemeint ist. Da ist sie wieder, die zähnefletschende Dummheit der Leute hier. - Alles interessant, wahnsinnig. Schade, daß ich jetzt nicht drüben sein kann. Sie sagten auch, daß es nicht angehe, die«Ausreiser»zu verachten und aufzufordern, dazubleiben. Jeder habe das Recht, dort zu leben, wo er leben will. Frau Klier meinte, es sei eigenartig, wenn aus Westdeutschland jemand weggehe, dann lobe man ihn dafür, dann finde man das großartig, aber die«Ausreiser»würden als Verräter angesehen. Gestern war ein polnischer Journalist hier. Der wollte sich wohl für längere Zeit bei uns niederlassen, wir konnten ihn schon nach anderthalb Stunden wieder abschütteln. Es ist irre, daß die Leute immer nur dasselbe fragen und sagen und an Antworten nicht interessiert sind. Der Pole, der neulich hier war, meinte, ich käme ihm vor, als lebte ich in der Verbannung.
    Ein Glas mit klarem Wasser auf meinem Nachttisch.
    Dorfroman:
    Steht im November noch das Korn,
ist es wohl vergessen wor’n.
    Liegt der Bauer in dem Zimmer,
dann lebt er nimmer.

Nartum
Do 2. November 1989
    Bild: Hoimar v. Ditfurth/7 Jahre quälte ihn der Krebs/tot
    ND: Völlige Übereinstimmung bei Treffen Michail Gorbatschow - Egon Krenz
     
    Der Wind bläst Blätterwolken über den Garten. Ich machte nur einen kurzen Spaziergang, wobei ich den Präsentiermarsch pfiff. Dieter Kühn hat abgelehnt, zum Seminar zu kommen, er braucht das Geld aus den Lesungen nicht so dringend. Er hat durch seine doch recht zahlreichen Hörspiele ziemlich regelmäßige Einnahmen, sagt er, sie werden öfter wiederholt oder übernommen. - Ich ärgere mich, daß ich nie Hörspiele höre. Leider gibt es keinen Timer an Tonbandgeräten, sonst könnte ich sie aufnehmen und auf der Fahrt nach Oldenburg abspielen. - Ich erinnere mich an ein Hörspiel von Bazon Brock:«Grundgeräusche», das möchte ich gern mal wieder hören, das war eine lustige Sache.
    Aus den mitgeschnittenen Lesungen hier in Nartum bei den Seminaren könnte ich eine irre Collage machen. Aber das geht wohl rechtlich nicht. Da würden mir die Kollegen ganz schön aufs Dach steigen. Ich bat sie zu erzählen, wie sie zum Schreiben gekommen sind. Guntram Vesper hat das bei uns, glaube ich, dreimal gemacht. Das müßte man mal nebeneinander stellen, oder sogar übereinander, jedenfalls ein Stückchen, das besonders relevant ist und zeigt, wie Schriftsteller bei dieser Gelegenheit ihre Platten abnudeln.
    Krenz gestern in Moskau: Wiedervereinigung? Nee. Wieso«wieder»? Seien denn DDR und BRD je vereinigt gewesen? Und könne man denn überhaupt zwei so grundsätzlich verschiedene Staaten - wie einen sozialistischen und einen kapitalistischen - vereinigen? - Das wird ihm noch um die Ohren geschlagen werden. Der Krenz ist aber auch von der Natur benachteiligt - sein Aussehen. Er ist arm dran, wie man so sagt. Schöne Locken hat er und gewaltige Zähne.
    Kunert meinte, das Wetter spiele auch eine Rolle. Ob die Leute
bei Regen und Schnee auch noch so gern auf die Straße gingen? Einer sagte, wenn die DDR-Oberen sich verhärteten, dann würden die Bürger

Weitere Kostenlose Bücher