Alkor - Tagebuch 1989
eines Tages mit Pistolen schießen. - Das glaube er nicht, sagte Kunert, Pistolen gäbe es in der DDR nicht ganz so viele, die seien dort Mangelware wie alle Gebrauchsgüter.
Nartum
Fr 3. November 1989
Bild: Stern-Reporter/Meine Frau wurde vergewaltigt von diesem Mann
ND: Erreichtes in der Zusammenarbeit DDR - Polen bewahren und ausbauen
Heute früh sah ich im Brunnen Wasser stehen. Ich dachte: Das ist kurz vorm Gefrieren. Wenn du jetzt den Zeigefinger hineinsteckst, erschrickt das Wasser, wird zu Eis, und du kriegst den Finger nicht wieder heraus. Lange Überlegungen, wie das doch noch hinzukriegen sei.
Lesung in Hannover, Seniorenheim Eilenriede. Mir wurde vorher eingeschärft, daß die Zuhörer im Durchschnitt 81 Jahre alt sind. - Was mich ärgerte, war die Mitteilung, daß das Haus«jahrelang»durch die Herren Hagelstange und Manfred Hausmann beehrt worden sei. Im letzten Jahr sei Krolow dagewesen. Daß die jetzt erst auf mich kommen? Der Saal habe eine manierliche Akustik, wurde gesagt. Die sogenannten Diskussionen, nach den Lesungen. Ob ich mit meinen Büchern schon mal unzufrieden gewesen wäre, wollte einer wissen. Die Frage der Wiedervereinigung wurde sogar gestellt. Ich sagte, im Falle eines Atomkrieges sei die Wiedervereinigung sofort da. Auch wäre eine konventionelle Ostinvasion denkbar. Auch das Undenkbare könne über Nacht eintreten. - Wer hätte denn vor zehn Jahren die Computerentwicklung vorausgesehen? Und wer hätte von den jetzt 80jährigen in seiner Jugend sich eine solche Welt vorgestellt, oder
noch weiter zurück die 80jährigen 1910, wer von denen hätte in seiner Jugend an ein Deutsches Reich gedacht.
Eben reckte ich mich wegen meiner rheumatischen Schulter, worauf ein Inder, ein paar Tische weiter, mir zurief:«Oh, oh, zuviel schreiben?»Er denkt wohl, daß ich meine Reiseerinnerungen hier einem Tagebuch anvertraue, was mich sofort wieder ins Schülerhafte zurückstößt.
«Irgendwas muß man schließlich sammeln», ein Herr hinter mir zu einer Dame, die sich ein Cognac-Fläschchen«für ihre Sammlung»geben läßt.
Immer wieder die mißtrauische Frage, die ich lange nicht gehört habe:«Wie können Sie das alles schreiben, wenn Sie doch Lehrer sind?»
Oder:«Wie können Sie jetzt in der Gegend herumreisen?»Solche Fragen werden gern in Kleinstädten gestellt.
Eine Frau sagt, sie sei mir nach Hannover nachgereist, damals, als ich in der Raabe-Schule gelesen habe. Meine Bücher besitze sie alle, aber gelesen habe sie sie noch nicht. Einmal so überflogen. Warum ich nicht mal was schreibe, in dem das weibliche«Mittelalter»eine Rolle spielt, wurde ich in der Diskussion gefragt.
Ein alter Rostocker stand auf und sagte, daß mich die Rostocker gar nicht mögen, weil dies und das nicht stimme in meinen Büchern. Ich:«Ich mag manche Rostocker auch nicht.»
Mit zunehmendem Alter, das wohl eine größere Gelassenheit mit sich bringt, ändert sich das Publikumsverhalten mir gegenüber. Ich habe auf dieser Reise stets ausverkaufte Säle gehabt, und wenn ich hereinkam, wurde mir bereits applaudiert. Die Wärme des Empfangs ist nicht zu verkennen, sie scheint eine Reaktion auf meine Heiterkeit zu sein, auf das, was die Leute für«sonniges Gemüt»halten. Sonderbarerweise stellt sich gleichzeitig eine zunehmende Wirkung auf Frauen ein. In ihrer Verbiesterung suchen sie jemanden,«der die Welt überwunden hat», und sie meinen, daß ich das sei. Hier ergibt sich nun die Gefahr der Inszenierung. Ihr muß widerstanden werden.
Eine Frau behauptete heute nach der Lesung, nur Männer könnten grausame Gedanken haben (Sowtschick bei Carola). Ich:«Haben Sie noch nie’ne Wut gehabt?»
Der sogenannte Flüchtlingsstrom nimmt zu. Wenn man sich das Gesicht von Krenz ansieht, kann man’s verstehen.
Hildegard war in Hamburg. - Ich machte einen großen Spaziergang und faulenzte stundenweise.
Im fünften Programm ein Film: Junger Mann verliebt sich in kleines Mädchen. Er bestand im wesentlichen aus Anglotzen. Film im Ersten über Flüchtlinge, wie sie sich vorkommen. Eine Zahnärztin und zwei Töchter.
Mit Paeschke über«Echolot»gesprochen und darüber, daß in der Taschenbuchausgabe von«Hitler gesehen»meine Chronik wieder nicht korrekt angezeigt wird. Das nervt den allmählich, mich auch.
Die Sportplatz-Flutlichtanlage hier im Dorf. Die Anwohner lassen sich das gefallen. Was wir für ein Glück haben, daß wir uns rechtzeitig an den Dorfrand verdrückt haben. Jeden Sonntag die
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