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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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willkommen»in Frage oder«Ein Kapitel für sich». Aber ich bin nicht einer der Ihren. Was werden sie zu T/W sagen? - Der Ausmarsch ins Feld in«Aus großer Zeit»ist eine der wenigen zeitlosen Passagen. Die würde sich eignen, auch wegen des Ernstes. Aber von solchen«ernsten»Kriegssachen haben sie die Nase voll, damit sind sie bestimmt von ihrem Friedensstaat täglich gefüttert worden. Heute früh auf der Autobahn, Richtung Bremen, auch einige Trabis. Ihr langsames Fahren wirkt beharrlich, ja zombihaft. Rommels Panzerarmee. Renate ist jede Nacht bis 3 Uhr auf der Straße gewesen, sagt sie am Telefon.
    Engholm ist auch für eine Wiedervereinigung, sagt er. /Bei freien Wahlen wird die SED wohl 28 bis 32 Prozent bekommen, wird gesagt. /«Ich jloobe an meenen Staat!»/Man spricht davon, daß die Bonzen Milliarden in die Schweiz …/Eine Frau aus dem Dorf: Sie hätte all die Tage geweint. Sie wär’ allein im Haus gewesen, da wär’ das gegangen./Selbst der«Spiegel»-Reporter habe die Tränen nicht zurückhalten können.
    Die neuen Parteien drüben wollen«auf jeden Fall den Sozialismus beibehalten». - Das, was man hier die linke Intelligenz nennt, ist in jeder Hinsicht sprachlos. Erst geht ihr schönes Sozialismus-Bild flöten und dann auch noch der Retortenstaat. - Nun, sie werden schon wieder was Apartes finden. Unsereiner steht nicht hoch im Kurs.
    «Die deutsch-deutsche Grenze, sie existiert nicht mehr.»Neue Sprachmode der Journalisten.

    Unsere kaputten Tannen: Verbrennen geht nicht, wegen Verpestung der Luft. Schreddern geht nicht, weil dann die Schädlinge im ganzen Garten verbreitet werden. In Bremen beseitigen lassen: Transport muß bezahlt werden und Beseitigung auch. Also? Ich habe schon gesagt: Verschreddern, und dann nach und nach im Kamin verbrennen. Aber so hatten wir uns das ja eigentlich nicht gedacht.
     
    14.30 Uhr
    Nun auch noch ein Stau auf der Autobahn. Wie gut, daß ich mir Geld eintauschen ließ. Im fremden Land ohne gültige Währung? Im Fernsehen gestern: Ein Mann aus Groningen, er ist extra nach Berlin gefahren, um das dort mitzuerleben.
     
    1995: Eine Schülerin:«Als die Mauer fiel, war ich gerade in Amerika. Ich habe die Ereignisse dort mit weniger Interesse verfolgt, als die Amerikanerinnen es taten.»
    Weshalb rege ich mich darüber auf? Ich würde dieses Mädchen am liebsten ohrfeigen, links und rechts. Aber das führt uns ja auch nicht weiter. Den Lehrern müßte man welche latschen.

Amsterdam / Nartum
Mi 15. November 1989
    Bild: Brandenburger Tor heute auf? / Berliner warteten die ganze Nacht
    ND: Sorgt für Material und Technik - dann bringen wir unsere Leistungen für die Republik
     
    Lesung im Goethe-Institut, die zum Schluß ins Eklatoide abdriftete. Einige Holländer äußerten ihre Besorgnis über eine eventuelle Wiedervereinigung.
    Eine Jüdin:«Ich freue mich darüber, aber ich packe meine Koffer. »

    Nach all dem, was geschehen ist, kann ich das verstehen, und das habe ich dann auch gesagt, wodurch die Luft raus war. Ein derber Mann versuchte mich auf primitivere Weise zu provozieren, auch er konnte beruhigt werden. - Hinterher entschuldigten sich jüngere Menschen für seine Ausfälle. Es kam auch noch ein Herr Schindel, Suhrkamp-Lyriker, dessen Familie ermordet worden ist in Österreich, und der erforschte meine Mentalität. Ob ich nicht auch meinte, daß die Nazi-Verbrechen nicht mit den sowjetischen Untaten zu vergleichen wären? Nun, vergleichen kann man sie schon, aber nicht gleichsetzen. Jeder Völkermord hat sein eigenes Gesicht.
    Meine Lesung aus«Hundstage»(Kapitel 1) kam nicht besonders gut an, sehr verhaltener Beifall. Aber der niederländische Verleger vorn in der ersten Reihe lachte für alle. Wunderbares Hotel: Ambassade in der Herengracht. Leider konnte ich nicht mehr in die Bibliothek gehen wegen der Tagebücher, ich hatte nicht mehr die Kraft. Sie hatten, wie mir gesagt wurde, schon was herausgesucht. Raddatz ist nicht gekommen, der sollte auch sein Buch vorstellen. Ich würde mich nie trauen, eine solche Einladung abzulehnen oder gar einfach wegzubleiben. Mir nehmen sie alles übel. Ein Film-Mensch namens Duyns, ob er ein Film-Porträt von mir machen kann.
     
    12 Uhr
    Amsterdam, Flughafen. Gott sei Dank bin ich eine Stunde zu früh gekommen zum Abflug. Die Abfertigung hier ist skandalös. Ich stehe tatsächlich schon eine dreiviertel Stunde am Schalter, habe nun beschlossen, das als Beruhigungsübung aufzufassen. Es ist unglaublich! Jedesmal

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