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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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wieder sagt man sich: Nie wieder fliegen. Und dann tut man’s doch.
    Gestern erzählte ein Korrespondent der«Süddeutschen», daß es schon passieren kann, daß man hier als Deutscher ein Glas Bier ins Gesicht bekommt. Das ist ja nicht weiter wichtig. Man sollte sich dem eben nicht aussetzen. Kein Bier trinken und vor allem: Zu Hause bleiben! Sich nicht unters Volk mischen.
    Ich kaufte im Ramsch einige holländische Kempowski-Titel billig,
fürs Archiv: 87,60 Gulden. Und auch Tagebücher bzw. Biographien, vornehmlich flandrischer SS-Männer; dafür gibt es hier wohl einen Markt. Leider vergaß ich, mir eine Quittung geben zu lassen. Dies muß nachgeholt werden. Die brutalisierte Art der Holländer ist an sich ganz sympathisch. Bei Rot ohne weiteres über die Kreuzung. Ruppig und etwas ordinär. Einer nahm es mir übel, daß ich gesagt habe, ich könne holländisch lesen, das sei für mich als Norddeutschen nicht weiter problematisch. Die Holländer hätten doch überhaupt nichts mit den Deutschen zu tun. Als er mich zur Rede stellte, gab ich dann vor, ihn nicht zu verstehen.
    Ich stehe immer noch in der Schlange, nun schon eine ganze Stunde! Abfertigung«handbaggage only»ist geschlossen. Ich scheine sogar noch Glück gehabt zu haben, denn hinter mir ist es schwarz von Menschen. Einzelne versuchen, sich vorzudrängen. Sie geben sich ahnungslos. Es gibt ja auch immer Leute, die ihr Zeug nicht in Ordnung haben. Die Erste-Klasse-Passagiere beobachtet. Geschäftsonkels, eine Diva, ein Amerika-Ehepaar. Inzwischen habe ich auch am Paßschalter noch gestanden, eine wilde Gruppe von Rifkabylen, mit deren Papieren was nicht stimmte. Ich werde als«Geschäftsmann»gleich durchgewunken.
    Jeder sollte Schuld bei sich suchen, sagte ein Holländer. Damit meinte er mich. Was tue ich denn den ganzen Tag? Im ganzen ein sinnloses Unternehmen, diese Holland-Sache.
    Roß vom Verlag nannte phantastische Zahlen, die Holländer läsen gewaltig viel Bücher. Auflagen von 50 000 wären keine Seltenheit. Die Belgier (Flamen) läsen überhaupt nicht. Jetzt würde ich gern einen Kaffee trinken. Aber da stehen sie auch wieder Schlange.
     
    Inzwischen wieder eine halbe Stunde gewartet bei der«Boarding control». Nun ist meine Geduld tatsächlich am Ende. Eine Frau im Rollstuhl weigerte sich, ihre Handtasche herzugeben, zur Kontrolle. Ihr mußte lange zugeredet werden. Und als sie sie wiederbekommt, kontrolliert sie, ob alles drin ist.

    Flughäfen: An diesen neuralgischen Punkten begreift man, daß es zu Ende geht. Dies kann nicht mehr lange dauern.
    Die Begrüßungsfeten in Berlin, der Taumel, das alles ist vielleicht ein Mißverständnis? Die drüben jubeln, weil sie reisen dürfen, die hier jubeln wegen der Wiedervereinigung?
    Nun wieder im Bus warten.
    Ich habe immer gesagt: Wo ist der KPM-Schalter, und die haben mich natürlich absolut nicht verstanden.
    Sie hören die Flöhe husten und verstehen nichts.
    Noch eine Viertelstunde im Bus gewartet. Ich bin froh, wenn ich aus dieser Hölle heraus bin.
    In Bremen noch etwas rumgelaufen, alte Nazi-Zeitschriften gekauft für 50 Mark. Frühjahr 1943: Frauensachen.

Nartum
Do 16. November 1989
    Bild: Das Tor geht auf / So wird es wieder sein
    ND: ND fragt Berliner Genossen: Was bewegt euch und was bewegt ihr in diesen Tagen?
     
    Gestern fuhr ich vom Flugplatz noch nach Bremen, wollte im Antiquariat Storm nach Tagebüchern suchen. In der Innenstadt wimmelte es von Ostautos. Bremer Bürger standen um die Dinger herum. Einer studierte ein Flugblatt, das unter die Scheibenwischer geklemmt war, eine Frau packte Bananen auf den Kühler. Ich griff mir eine kleine Familie aus Rostock, der Mann Elektriker, die Frau Agronomin, zwei Kinder. Wir setzten uns in ein Café, und dann nahm ich sie mit nach Nartum.
    Er berichtete von Demonstrationen auch in Rostock, schon seit Wochen, jeden Montag, 80 000. Er nimmt jedesmal daran teil, und ihm prickelt es über den Rücken, wenn die Leute rhythmisch in die Hände klatschen. Er sagte:«Demonstrationen müssen auch erst gelernt werden.»Früher sei der Zug öfter ins Stokken geraten, abgerissen, einige wären stehengeblieben, andere
weitergegangen usw. In der Marienkirche beginne es jedesmal, 7000 paßten da rein, man müsse schon zwei Stunden vorher kommen. Die Pastoren gäben genaue Anweisungen, wie man sich verhalten muß usw. Dann werde losmarschiert, die Lange Straße hinunter, mit Kerzen und skandierend. Auch Stasi-Leute gingen mit, man erkenne sie daran,

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