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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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umsonst!»stand zu lesen, Verbrüderungen, Tränen. Überall in der Stadt standen sie herum - wie eine Invasion des eigenen Ameisenhaufens durch fremde Ameisen. Durch die Fußgängerzone schoben sich die Ossis in Achterreihen, was kost’ die Welt … Ein Westherr verteilte Fünfmarkstücke an sie, das war etwas sonderbar. Ich kann daran allerdings nichts Anstößiges finden.
    Ich ging aus Dankbarkeitsgründen schließlich in den Dom, der in seiner Renoviertheit gelassen und stumm dalag und in dem kein einziger Mensch zu sehen war, und danach in die Marienkirche, in der eine kleine Gruppe von Zonis sich umschaute
(offenbar sogenannte Gebildete). Ein Bedürfnis zu stillem Gebet bestand nicht. Auch die Orgel wurde nicht traktiert, das wäre vielleicht angebracht gewesen. Dafür traf ich Erenz mit einigen Herrschaften der öffentlichen Meinung, die sich arg zurückhielten mit derselben, als ob das gar nicht stattfand da draußen, das Weltgeschichtliche. - Ich beschrieb ihnen mein«Echolot»-Projekt. Sie denken, ich bin eine lustige Person, lachen gleich, wenn sie mich sehen usw. So geht es wahrscheinlich auch Loriot, der doch ebenfalls ein ganz ernsthafter Mensch ist.
    Ich schob mich dann wieder ins Gewühl, stoppte eine Familie aus Schwerin und lud sie ins Marzipan-Café ein. Wir konnten keinen Platz finden in der Herberge, mußten wieder rausgehen. Sie sagten nicht miff und maff, die Leutchen, mißtrauisch irgendwie. Oder einfach: Schwerin . Die Leute aus Schwerin sind eben so. Meine Versuche hernach, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, scheiterten ebenfalls, und so ging ich dann, ein zittriger Opa, irritiert zum Bahnhof zurück und fuhr wieder nach Hamburg, wo inzwischen die Straßen wie leergeblasen waren. Am Jungfernstieg stand ein einsamer Wartburg. Und ich glotzte einzelne Passanten an, ist das nun ein Ossi oder nicht? Eine Großfamilie in Mischausführung Ost/West besah sich die Alster, ihre Mäntel flatterten im Wind.«Dies ist also Hamburg», das werden sie in ihrem Herzen bewegt haben, und die Westmitglieder der Familie haben vielleicht gedacht:«Und nun?»- Im Bahnhof eine Familie, ich vaterländete sie an, ob ich sie einladen dürfe zu einem Bier oder was.« Sie wollen uns einladen? Wo wollen wir denn hier Bier trinken?»
    Am Bahnhof in Lübeck scharten sich ganze Familien um ihr Auto, vesperten, Deckchen auf Kühlerhaube, Thermoskanne. Besoffene habe ich keine gesehen, alles ganz zivilisiert. - Einsame Fahrt nach Hause, das 6. Brandenburgische Konzert, alle drei Minuten ein Ostzonenauto überholend. Es wird ganz allgemein geblinkt. So mancher laborierte auf der Standspur.
    Hier dann ein Glas Milch und Obstsalat und eine Sendung über Jenningers Fall. Er war exemplarisch für das, was bei uns täglich passiert.

    Von Erenz die Mitteilung, daß Böhme nicht ganz freiwillig vom«Spiegel»weggegangen sei:«Ich will nicht wiedervereinigt werden», hat er gesagt, das war ja auch ein bißchen stark.
     
    1997: Kellnerin, *1949:«Als die Mauer geöffnet wurde, war ich gerade in Leipzig angekommen, ich fuhr damals bei der Mitropa. Ich glaube wir haben Fernsehen geguckt, und als wir das sahen, haben wir Rotz und Wasser geheult, vor Freude, wir hatten nicht für möglich gehalten, daß das passiert ist.»

Nartum
So 12. November 1989
    Welt am Sonntag: 2,7 Millionen Visa/Die Deutschen feiern ihr größtes Fest des Wiedersehens nach langer Trennung
    Sonntag: Für Walter Janka. Von Nuria Quevedo
    Poesiealbum von 1889:
    Schiffe ruhig weiter,
wenn der Mast auch bricht,
Gott ist Dein Begleiter,
er verläßt Dich nicht.
    Zur freundlichen Erinnerung
an Deinen Mitschüler Friedrich Semlow
Greifswald, den 12. 11. 1889
    8 Uhr
    «Mein Kleener will Lakritze!»/Schlafen in den Autos. Telefon für Übernachtungsstelle: 55 42 00. Neue Übergänge in Berlin und an der Grenze./«Zu Ehren der DDR-Gäste»hat ein Buchhändler geöffnet./In Hamburg ist alles dicht, wogegen in Lübeck alles geöffnet hat./Ein Café gab Kaffee für DDR-Besucher kostenlos. Das hat die Leute beleidigt.«Sie hätten wenigstens unsere Ostmark nehmen können.»

    Das gute Wetter ist natürlich sehr passend. November!
    «Straße des 17. Juni»soll es nicht mehr heißen, sondern«Straße des 9. November».
    Die TV-Reporter stellen auch am vierten Tag noch immer dieselben Fragen:«Was fühlen Sie, wenn Sie jetzt im Westteil der Stadt ohne weiteres auf- und abgehen können, von den Landsleuten freundlich begrüßt? Fühlen Sie sich freudig bewegt, oder

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