Alkor - Tagebuch 1989
sind Sie auch ein bißchen traurig, daß sich die Dinge vielleicht nicht weiterbewegen, stagnieren, sich sogar umkehren? Haben Sie vielleicht insgeheim …?»und so weiter, und um ihn herum stehen hundert Leute, die alle schöne Geschichten erzählen könnten. Sobald einer anfängt, Stories zu erzählen, nehmen sie ihm das Mikrophon fort. Alles nur häppchenweise, bloß nicht ausführlich. Kriegen Journalisten es eigentlich nicht beigebracht, wie man Leute zum Sprechen bringt? So was kann man doch lernen? - Und dann auch interessant, wie sie sich anziehen, Engert mit seiner steil aufstrebenden Glatze und mit der Piloten-Brille,«alles nach unten». Der hat sich bestimmt vorm Spiegel zurechtgemacht.
Einer der DDR-Leute, ein Mann mit Bart, gab die Frage zurück!«Ja», sagt er,«nun sagen Sie mir mal, was Sie so fühlen! Können Sie mir das erklären, was hier vorgeht?»
DDR-Bürger-Interviewer-Kleidung.
10.30 Uhr
Aufnahmen von schlafenden Leuten im Auto./Reeperbahn:«Ich bin überwältigt! Ich komm’ jede Woche wieder her. Leute! Ehrlich! »/In Herleshausen spielte eine Musikkapelle aus der DDR flotte Märsche. Schon jetzt werden 60 Kilometer Stau gemeldet.«Und das Wetter spielt mit!»(Reporter)
13 Uhr
200 Kiebitze draußen über der Wiese.
Moskau schreibt: Die Mauer ist praktisch beseitigt./In der Philharmonie ein Konzert für die DDR-Besucher: Barenboim, Leute im Pullover. Beethoven natürlich, und mit Recht: unsere Leute.
Bewegender als alles andere zuvor./Erst das war es. Im Grunde ist erst jetzt der Krieg zu Ende./Eine formelle Wiedervereinigung ist eigentlich gar nicht mehr nötig.
15 Uhr
Weizsäcker warnt vor Triumphgefühlen. Wie soll man sich verhalten, wenn man eine solche Warnung beherzigen will?
Der erste Ostmensch am Potsdamer Platz, wo gerade die Mauer durchbrochen wurde. Traubenartiges Geschiebe.
Schlutup: Polizisten mit Mundschutz wegen der Abgase.
Kohl in Kreisau, fast unbeachtet. Eine sehr dämliche deutsche Reporterin provokant zu den paar deutschen Oberschlesiern. Skandalös. Was sie denn wollen? Wieso deutsch?«Na, wir sind doch Deutsche!»-«Was? Sie sind Deutsche?»
22.30 Uhr
Der teigige Schabowski, er sieht wie ein Bösewicht aus. Was sie dem wohl einheizen! Krolikowski und andere./Galoppierende Geschichte sei das, sagt ein polnischer Priester./«November-Revolution»wird die Sache genannt./Es sei super, in der DDR werden viele Wohnungen frei, da könnten Polen einziehen, sagt eine Polin.
Gegen Mitternacht
Es setzt allmählich Nachrichtenmüdigkeit ein. Nun wird es nochmal spannend, wenn der Gegenverkehr erleichtert wird. Ich möchte zu gern mal wieder nach Rostock./Hastige Höhepunkte: das Durchbrechen der Mauer an mehreren Stellen, Weizsäcker in Berlin, Kohl in Kreisau./Eine unglaubliche Woche. So etwas habe ich noch nie erlebt. Gedanken an Wiedervereinigung treten allmählich zurück. Es soll ja keine Wiedervereinigung werden, erstens, und zweitens, wenn wir hin und her reisen können und wenn sie demokratische Verhältnisse bekommen, dann ist es doch ganz egal. Wichtig wäre nur, daß die Schmutzfinken drüben endlich verschwinden.
Arbeit am«Echolot». Habe mich heute mit dem März’43 beschäftigt.
Jedesmal, wenn ich einen Tag«aufrufe», um einen Text einzugeben, bin ich gespannt, ob schon etwas«da»ist. Die Tage füllen sich. Es ist schon eine Menge«da». Das Gespräch der Toten hat eingesetzt. Sie wachen auf. - Meinem Gefühl nach müßten die Beiträge Unbekannter überwiegen. Die«Großleute»übernehmen Leitfunktionen.
Mit Hildegard: zwei längere Spaziergänge, die Hunde sprangen um uns herum. Wenn’s losgeht, knurren und bellen sie wie rasend, fallen übereinander her. Emmi bellt durchdringend hell. Sie hat sich sofort auf Robbies Platz gelegt, der schläft jetzt auf einem der Kaminsessel.
Vollmond. An Saal 3 gedacht, wo mir Lehrer Heyne Goethes«An den Mond»aufsagte, im Mittelgang auf und ab gehend, beim Hungermarsch. Ich weiß noch, wie«beseligt»ich war. -«Wie des Freundes Auge mild …»Einen Freund in diesem seligen Sinn habe ich leider nicht.
1997: Beamter, *1933:«Von der Öffnung der Mauer habe ich abends im Radio gehört. Am nächsten Tag mußte ich nach Süddeutschland fahren, nach Ludwigshafen. Da sind mir die vielen Trabis und Wartburgs aufgefallen, auf der Autobahn, die nach Westen fuhren. Und zwei, drei Tage später, auf der Rückfahrt, da fuhren die wieder alle nach Osten, voll beladen mit Sachen.»
Nartum
Mo
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