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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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13. November 1989
    Bild: Guten Morgen, Deutschland/Es war ein schönes Wochenende
    ND: Politbüro des ZK der SED schlägt außerordentlichen Parteitag vor/Weiteres Telefongespräch Egon Krenz - Helmut Kohl
     
    TV: Eine Apothekenhelferin aus Potsdam hat nur einen einzigen Wunsch: einmal nach Tirol, wo vor jedem Fenster Blümchen
sind./«Gehen Sie morgen wieder zur Arbeit?»fragt einer dieser bescheuerten Reporter, ich glaub’, es war Engert.«Aba klar!»/ In Lübeck in der Fußgängerzone protestieren nur die westdeutschen Penner:«Alles von unserm Geld!»/Ein junger Westdeutscher in Hof: Nein, es gefalle ihm nicht, es sei zu voll in der Stadt. Er habe sich schlafen gelegt, ihn interessierten die Zonenleute nicht./Der Parteivorstand in Rostock ist geschlossen zurückgetreten. Selbst das machen sie«geschlossen»./Ein Ostmann regte sich über«die Diskriminierung der Ostmark»auf, sie hätten doch auch hart gearbeitet./Auf den Brücken winken die Westdeutschen den Zurückfahrenden nach, Transparente: Auf Wiedersehn./Kerzen./Drei Millionen waren über Sonntag im Westen.
    Traurige Rückkehr von«Ausreisern», wie die Grünen sie nennen. Sie«bekunden Rückkehrwilligkeit».
    Veränderte Lage, Heimweh, enttäuschte Erwartung seien Motive.
     
    Kohl in Polen: Das verfallene Kreisau. Die Polen hatten keine Ahnung von der Bedeutung des Ortes. Nun wollen sie wieder Geld. Daß sie riesige Ländereien, ganze Städte und Dörfer kassiert haben, wird nicht erwähnt. Stettin, Breslau … nicht erwähnenswert.
    «Wohnraumvergabepläne», ein schönes DDR-Wort.
    Ein Pastor aus Biestow kam zu Besuch. - Biestow!

Nartum / Amsterdam
Di 14. November 1989
    Bild: Mann, wird das ein Weihnachtsfest
    ND: 11. Tagung der Volkskammer/Oberste Volksvertretung diskutierte die politische Lage in der DDR
     
    Bremen, Flughafen.
    Leider muß ich heute nach Amsterdam. Es ließ sich nicht vermeiden.
Die«Hondsdage»sollen vorgestellt werden. Dort soll ich mit Raddatz über den«Literarischen Betrieb in der Bundesrepublik»diskutieren.
    Gestern in Oldenburg war ich mies, war wohl überanstrengt. Es ging nichts aus von mir, sie unterhielten sich ungeniert, während ich sprach. - Danach, bei den«Schreiben-lernen-Wollenden», stellte ich die Schreibaufgabe:«Trabis kommen». Und da kam die Überraschung: Diese Leute hatten gar keine Eindrücke vom Jahrhundertereignis, sie interessierten sich offensichtlich gar nicht dafür.«Trabis»? Was ich damit meinte, wollten sie wissen. So was kann ich überhaupt nicht verstehen. Hier handelt es sich wohl um eine Generationsfrage. 40 Jahre, das war eben doch zu lang! - Und im Radio reden sie vom«Wiedervereinigungsgequassel». Aber profilierte Leute - wie Brandt, Dohnanyi, Augstein - sind dafür. Genscher wird’s schon machen. Gordon A. Craig im«Spiegel»:
    Viele Menschen sind der Überzeugung, daß die Deutschen von Zeit zu Zeit durchdrehen und daß dies auf die dunklen Abgründe in ihrer Seele zurückzuführen ist, auf ihre ständige Neigung, sich zu fragen, wer und was sie sind und wozu sie leben. Dazu kommt das Gefühl, daß niemand sie mag. Und daher die Tendenz, aus kleinen Siegen große Triumphe zu machen, kurzum: zu übertreiben.
    12 Uhr
    Das Flugzeug kann in Amsterdam nicht landen wegen«Mist», Nebel also. Wir werden mit einem Bus von Eindhoven dorthin gefahren. Das soll zwei Stunden dauern. Ich habe mir schnell noch was zu essen geholt, da ich wieder einen Zuckerschock befürchte. - Gut gelaunt. Das Wetter ist wundervoll, der Sitzplatz neben mir ist frei, ich kann es mir bequem machen und in Ruhe meinen Folienkartoffelsalat essen. Ein Herr, dem ich riet, er solle sich auch schnell noch was zu essen holen, sieht mich dankbar an. Die Neigung der Menschen bei solchen Klein-Katastrophen, miteinander zu reden. - Diese Art Gegend kenne ich noch nicht. Wie es scheint, haben die Holländer ihre Landschaft zu
100 Prozent unter Kontrolle. - Hoffentlich schaltet der Kerl da vorn das Radio nicht ein. Viel Verkehr, allerhand Straßenbahn. - Ein Deutscher auf dem Flughafen fragte, wieviel«Meilen»es nach Amsterdam seien! Die Frau am Schalter wußte es übrigens nicht. Bei allen Neuerungen, die nun holterdipolter in der DDR eingeführt werden: Die Reisen von W nach O sind noch nicht möglich. Ich hoffe sehr, daß ich bald fahren kann. Dort einen Bekanntenkreis aufbauen. Als erstes eine große Rundreise, vielleicht Lesungen? Aber was? Meine Bücher sind ein Nonsens für sie. Am ehesten kommt noch«Herzlich

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