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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Pfennig, wird aber für 15 Pfennig verkauft (jährlicher Subventionsbedarf also über 100 Mio. Mark). Auch der schöne Satz, der viel Wahres enthält:«Anschluß ist die sicherste Art der Reform.»
     
    Auf dem Bahnsteig unterhalten sich zwei Handelsschülerinnen über ihre Prüfung:«Der Uwe hat geantwortet, Ethik, das ist, wie man mit Messer und Gabel ißt.»
    Mit dem Tischler den neuen Hühnerstall besprochen. Es stellte sich heraus, daß sie keine Ahnung haben, was zu einem zünftigen Hühnerstall gehört. Ich besitze eine Broschüre aus der Nazi-Zeit, danach gehen sie jetzt vor.
    Frau Dingwort-Nussek erzählte vor einiger Zeit, daß eine Reinemachefrau ihre gesamten persönlichen Akten, weil sie auf dem Fußboden lagen, Tagebücher, Briefe, in den Reißwolf gegeben hat. Einstein hat immer alles weggeschmissen - kümmerlich kommt mir meine Aufbewahrerei vor und ein wenig peinlich. Je mehr ich aufbewahre, desto sicherer ist es, daß sich niemand mit meinen Hinterlassenschaften befassen wird.
    Hildegard liest mal wieder«Herzlich willkommen». - Ich hätte ohne weiteres drei Romane daraus machen können. Die dreiteilige Großform sollte den Schluß der Chronik bilden als Gegengewicht zu den Romanen, die vor dem«Kapitel»stehen.
    An Ambrosius erinnern sich heute die Katholiken, wenn sie es denn tun.
    Ambrosius war Ambrosii Sohn, des Präfecten von Rom. Da Ambrosius, das Kind, einst in seiner Wiege in den Hof des Palastes ward gesetzt und schlief, flog ein Bienenschwarm daher und ließ sich auf sein Antlitz nieder und bedeckte es ganz und gar, also daß sie zu seinem Mündlein ein und ausgingen, als wäre es ihr Bienenstock. Danach flogen sie auf so hoch, daß kein menschlich Auge sie mehr sehen mochte. Als der Vater das sah, erschrak er und sprach:«Ist es, daß dies Kind am Leben bleibt, so wird Großes aus ihm.»

Nartum
Fr 8. Dezember 1989
    Bild: Sie wollten Stoltenberg/ Terror-Paar verhaftet/ Schon 6 Tage ohne Bewußtsein/Der große Grundig ringt mit dem Tod
    ND: Schalck-Golodkowski in der Haftanstalt Moabit
     
    T: Merkwürdiger Traum: Ich komme nach Rußland, suche Sachen fürs Lager zusammen.-Danach langes Gespräch mit einem Volkspolizisten, es als drückend empfunden, daß ich als Häftling (Jawohl, Herr Hauptwachtmeister!) vor ihm strammstehen muß und nach dem Munde reden. Lange Sache. Tendenz: K. ist unser Mustergefangener.
     
    Harald Knaust rief an, ob wir nicht zusammen nach Bautzen fahren wollten. Warum nicht? Ihm schwebt so eine Art Kumpeltour vor. Es war doch wunderbar, daß ich damals zu einem kleinen Kreis von Gleichaltrigen gehörte - immerhin ein paar Jahre -, die«zusammenhielten», wie man so sagt. Aber mit der Entlassung ist die Klammer gelöst, die uns zusammenfaßte, jeder hat sich seine eigene Umgebung geschaffen. Viel Rilke und Conrad Ferdinand Meyer, Terminpakete und ein bißchen Kiste-Nageln. Aber war es nicht doch mehr? Man geht so nonchalant darüber hinweg, tempi passati? Ein freundliches Gefühl für Bautzen mischt sich dadurch in die Bitterkeiten. Am Fenster sitzen und zu«Somnia»hinübergucken, die Krähen beobachten. -«Denn das Gesetz des Geistes …»- Aber es ist zu befürchten, daß durch eine gemeinsame Tour der letzte Zauber verfliegt und einer Realität Platz macht, die uns nichts angeht, die nicht dazugehört. Wir würden an der Mauer stehen und von draußen hineingucken, wie damals von drinnen hinaus. Freischwebender Sehnsuchtsvorrat, nach der Devise: Kumm rin, kannst rutkieken! 13
    In der Nacht schlief ich wieder sehr schlecht, mußte eine Pille nehmen.

    Gestern hat auch Litauen die«Führungsrolle»der KP abgelehnt, und die SEW in Berlin will sich selbst auflösen. Ich sehe mich noch, an einem 1. Mai, Berlin in den 70ern: Stiller und Buch lotsten mich in eine Parteiveranstaltung, und die war sehr lehrreich und unvergeßlich. Uraltkommunisten aus dem Widerstand gemixt mit Sendlingen aus dem Osten. Und ich hatte ein kleines Paket mit einer ziemlich wertvollen Antiquität auf dem Schoß. Ehe sich Gorbatschow nicht dazu durchringt, das Unrecht, was Stalin anderen Ländern angetan hat, anzuerkennen und wiedergutzumachen, kann es keinen Frieden geben.
    Die SED kracht zusammen:«Die haben doch alle Dreck am Stecken», sagte eine Verkäuferin.
    Heym hat einen unglaublichen Artikel im«Spiegel»losgelassen, er spricht von vergierten DDR-Bürgern. Die Bundesrepublik nennt er einen Freibeuterstaat usw. Er ärgert sich wohl, daß er nun nicht Staatspräsident wird, wie er

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