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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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uninteressiert sind: daß alles so weiterläuft, als sei nichts besonderes los … Schlaflose Nacht, wegen der Rundum-Konsequenzen. Es ist irrsinnig!

Nartum
Do 7. Dezember 1989
    Bild: Krenz gestürzt /Ab ins Zuchthaus /Alle politischen Gefangenen frei / Honecker entmachtet
    ND: Regierung der DDR ruft zu Ruhe und Besonnenheit auf
     
    T: Ich gehe eine schmale Landzunge entlang, an die das Wasser spült, nun muß ich ein Stück waten, aber es ist doch tiefer als ich erwartet hatte, den Berg dort werde ich nicht erreichen können. Also kehre ich besser um. - Bin ganz erleichtert, daß ich mich zur Umkehr entschlossen habe.
     
    Nun verbrennen sie die Stasi-Unterlagen. Im TV wird ein Schornstein gezeigt, aus dem Qualm quillt. Das nun auch noch! Das muß die Leute drüben doch in rasende Wut versetzen. Vielleicht kommt es nun tatsächlich noch zu Lynchmorden. Filmaufnahmen von einem Haus, in dem Stasileute wohnen. Die Frauen huschen verschüchtert in die Tür. Auf den Balkons Wäschestücke. Äußerst nervöse Stimmung.
    Noch TV-Bilder aus Bautzen, flüchtig sehe ich die Fenster des Saalflügels, ich möchte hinter den Apparat kriechen, um zu sehen, wie’s da drin aussieht, in der«Hamit», wie die Erzgebirgler«Heimat»aussprechen.
    Wenn die katholische Kirche noch in ihrer alten Tradition stünde, mit lateinischer Messe und allen ihren sakralen Bräuchen, müßte ich eigentlich konvertieren. Mein Leben bekäme einen zusätzlichen poetischen Glanz. Aber da ist viel Fremdes, was man schlucken und heucheln müßte, die Marienverehrung zum Beispiel. Oder würde mir dafür eine Interpretation einfallen? Ich meine den Glanz des Lebens - was für eine wundervolle Welt! Und wie schade, daß sie jetzt das demontieren, was in Jahrhunderten gewachsen ist. Sie glauben, mehr Zulauf zu haben, wenn sie den Weihrauch abschaffen. Das Gegenteil ist der Fall, daß sieht man ja bei den Orthodoxen, die nicht mit sich spaßen lassen. Es hat der Kirche das Genick gebrochen, daß sie alle Wunder und Geheimnisse erklären wollte.
     
    Ich dachte noch über Selbstmorde nach: das mißliche Schießen. Generaloberst Beck und Robespierre. Daß sie nicht richtig trafen. - In Bautzen las ich den Fontane-Roman«Stine»; der Schluß, daß Waldemar die Pistole verschmäht und statt dessen Schlafpulver in einem Rubinglas auflöst. Aber auch das kann danebengehen.
- Vorkehrungen gegen das Mißlingen. Zyankali schlucken und sich erschießen. Hitler? - Empedokles soll sich in den Ätna gestürzt haben, und Virginia Woolf nahm einen Stein.
     
    TV: Aufnahmen von aufgeregtem Volk, das sich vor Stasi-Gebäude zusammengeschart hat. Einzelne Stasi-Beamte werden rausgelassen, mit Pfiffen bedacht. Indifferent. Gestern hat sich einer erhängt, der Geld beiseite schaffen wollte. - Ansonsten, es fließt kein Blut, das wundert mich eigentlich. Zu einer richtigen Revolution gehörte bisher, daß Blut fließt. Was für Schlüsse soll man daraus ziehen?
    Lange Sendung über Willy Brandt in Rostock, traurig, daß ich nicht dabeisein konnte. Er hat in der Marienkirche gesprochen. War denn niemand in der SPD, der gesagt hat: Nehmt doch den Kempowski mit? Hat keiner den«Tadellöser»gelesen?
    70 Millionen Mark haben die Kommunisten hier im Westen im letzten Jahr von drüben bekommen, steht im«Spiegel». Die Zahlungen sind jetzt gestoppt worden.
    Nachträglich die Zeitungen der letzten Tage zu lesen, ist nicht besonders interessant. Hier ein paar Auszüge aus der ZEIT:
     
    Es sei vieles verbockt worden, hat ein SED-Mitglied gesagt. (Nun, wenn das keine Untertreibung ist!)
    Die Öffnung der Mauer sei unter«Verkaufsaspekten»völlig verfummelt worden. (Sie meinen wohl, sie hätten politisch was herausholen können.)
    Wenn die SED die Stimmen aller Parteimitglieder bekommen hätte und 800 000 dazu, dann wären das 25 Prozent. (In der Tat, eine interessante Rechnung. Vorgestern hat eine Umfrage ergeben, daß sogar 30 Prozent SED wählen würden. Es war wie einst bei den Nazis: fünf Prozent begeistert dafür, fünf Prozent entschieden dagegen, 90 Prozent Mitläufer. Auch viele Argumente der Selbstentlastung erinnern an die Diener des NS-Regimes:«Wir konnten doch nichts dafür, wir haben auf Befehl gehandelt, wir führten nur Weisungen aus.»Befehlsnotstand im Sozialismus als Entschuldigung?)

    Die Verfehlungen Honeckers und der Seinen werden«subjektivistische Anwandlungen»genannt.
    Das«Neue Deutschland»hat eine Auflage von 1,1 Millionen, kostet in der Herstellung 50

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