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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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transkribiert. Vergeblich, wie sich jetzt zeigt.
    Erlebnisse: bedeutungsschwere Partikel, die im Gedächtnis kristallisieren. Die Erinnerung an das Erlebte ist nicht gleich dem Erlebten. Es hat ein Austausch mit dem Allgemeinen und mit dem Gegenwärtigen stattgefunden.
    Der Wochenschau-Adler der Nazi-Zeit: Man denkt an ihn und an damals, und weiß, daß er aus Gips war. Der Film«Sieben Jahre Pech»folgte. Auch daran erinnert man sich, ohne freilich den Zusammenhang zu sehen. Gleichzeitig erinnert man sich daran, daß man ohne zu bezahlen ins Kino ging, durchs Klofenster stieg, und draußen stand nach der Vorstellung der Streifendienst. - Alles, was erinnert wird, ist bedeutsam. Das Unwichtige sinkt ab.
    Plankton. - Warum auf Erlebnisse zurückgehen? Vom Sinnlichen ausgehen, dann ist die Übertragbarkeit gesichert. Wer von Thesen ausgeht und dafür Beispiele sucht (im Roman), verstößt gegen das wichtigste Prinzip der Kunst. Vom Faßbaren ausgehen. Die Welt untersuchen, wie sie ist, nicht vom Bild der Welt ausgehen, wie man sich’s gemacht hat, und dann überprüfen wollen, ob’s stimmt. Erdkunde ist keine Vermutungskunde.
    Etwas anderes ist, wenn man vom Erlebnis ausgeht, zu einem Schluß kommt und hierfür dann andere unterstützende Beispiele sucht (Recherchen).
    Renate sagt, ich sähe wie eine kranke Eule aus.
    Ich bin eine kranke Eule.
    Gestern setzte ich mich sofort an die Post, mit der ich heute Nachmittag noch immer nicht fertig war. Viel Biographisches,
jeder Fall muß individuell behandelt werden. Ein kurzes, aber ein wärmendes Wort. Wunderlich ist es, daß Flucht und Vertreibung in der Öffentlichkeit kein Thema sind, und dabei ist das doch ein Jahrhundertereignis. 15 Millionen Deutsche mußten ihre Heimat verlassen, und zur selben Zeit wurde in Nürnberg zu Gericht gesessen über Menschen, die im Dritten Reich Deportationen befahlen. Bertrand Russell schrieb am 19. Oktober 1945 an die«Times»:
    In Osteuropa werden jetzt von unseren Verbündeten Massendeportationen in einem unerhörten Ausmaß durchgeführt, und man hat ganz offensichtlich die Absicht, viele Millionen Deutsche auszulöschen, nicht durch Gas, sondern dadurch, daß man ihnen ihr Zuhause und die Nahrung nimmt und sie einem langen, schmerzhaften Hungertod ausliefert. Das gilt nicht als Kriegsakt, sondern als Teil einer bewußten Friedenspolitik.
    Ich komme darüber nicht hinweg.
    Vielleicht wollte man nach dem Krieg davon nichts hören, weil man fürchtete, ein«Schrei nach Rache»könnte die mühsam gewonnene friedliche Gesinnung zerstören. Die Revanche der Revanche …«Einmal muß Schluß sein.»
    Vielleicht wird man sich eines Tages nach meinen Berichten die Finger lecken? Im Volke schlummern wahrscheinlich noch Schätze, ich habe ja erst den berühmten Zipfel erwischt. Die Sammlung ließe sich leicht auf«Zehntausend»steigern. Der einzelne Einsender erfährt eine späte Genugtuung, er weiß, daß seine Erlebnisse wenigstens statistisch zu Buche schlagen. Sein Name ist im Himmel geschrieben.
    An Emigrantenberichte ist schwer heranzukommen. Hier müßte sich irgendwo eine Tür auftun, wie bei den Bomberpiloten. Anrührend ist es, daß mancher Einsender sich mir mit Haut und Haaren ergibt. Andere stellen recht kleinliche Fragen, was aus meinem Archiv wird usw. Wieder andere vermuten, daß ich mich bereichern will. Einer schrieb:«Ich will das gar nicht veröffentlichen, weil ich mich nämlich nicht gerne kritisieren lasse.»Die Unordentlichen, die Unsauberen, die Niedlichen. Damen verzieren
ihre Texte gern mit Zeichnungen. Es gibt Herren, die ihren Bericht vom Computer ausdrucken lassen, in drei verschiedenen Schrifttypen. Manche Biographien riechen nach Zigarre, andere nach Puder. - Vielleicht ist diese Sammelei von Schicksalen mit dem Verwalten eines Zuchthauses zu vergleichen oder mit einem Zoo. Ich halte die Leute zur Verfügung. Es ist auch ein wenig Selbstbesinnung dabei,«als Deutscher», schließlich Verlängerung des Lebens in die Tiefe der Zeit und über den Tod hinaus. Ich treibe die Herde über den Deich.
    In der Veranda lag heute eine fremde Katze.
    Hier im Speisewagen sitzen zwei verschleierte Moslem-Frauen, die eine mit goldener Brille. Wenn sie sich schon nicht so modisch kleiden können oder dürfen wie die West-Damen, so verwenden sie einen gewissen Luxus auf den Stoff ihrer Gewänder. Diese hier trägt feinste gelbe, äußerst raffiniert gefältelt. - Auf dem Bremer Hauptbahnhof fünf Zigeunerfrauen, Zöpfe, Kinder

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