Alkor - Tagebuch 1989
deutschen Volkes», in Wahrheit als letztes Aufgebot präsentiert wurden. Einige der 15- bis 16jährigen hatten schon Sowjetpanzer abgeschossen und das Eiserne Kreuz erhalten. Hitler kam aus seinem Bunker und schritt die Front der Minderjährigen ab, einem tätschelte er die Wange - die Filmaufnahme dieser Szene ist eines der bekanntesten Bilddokumente vom Ende des Dritten Reiches. Nachdem Hitler, der kein Wort gesprochen hatte, in seinen Bunker zurückgestiegen war, bekamen die Jungen Päckchen
mit«Notverpflegung süß»ausgehändigt. Heinz Beck erinnert sich an den«laschen Händedruck»Hitlers, an die«müden Augen»eines«gebrochenen Mannes», aber auch noch, kopfschüttelnd, wie«stolz»er mit seinen knapp 16 Jahren danach wieder bei Hammelstall, östlich Berlins, in Stellung ging.
Nartum
Di 11. April 1989
Bild: Die Mordschwestern /Über 200 Patienten umgebracht? / Todesurteile beim Gläschen Wein/«Mundpflege»hieß: Ertränken /Sex mit Ärzten?
ND: Generaldirektor der UNESCO im Staatsrat der DDR empfangen
Ich ging heute früh durch die nach Honig duftende Gasse der eben abgeblühten Schlehen. Lesung in Jork in einem alten Fachwerkhaus, ca. 60 Personen. - Walter Jork Kempowski müßte ich heißen, dann würde ich doppelt soviel Bücher verkaufen.
Franz Schonauer glaubt, mich denunzieren zu können, indem er (im Hessischen Rundfunk) sagt: Kempowski schreibt oder schrieb für«Die Welt». Bums! Ich habe bisher keine einzige Zeile für«Die Welt»geschrieben, ich wurde nie dazu aufgefordert. Ich hätte es vielleicht getan. Zum Schluß sagt er:«‹Hundstage›»ist ein total mißglückter Roman,«weil es ihm in jeder Beziehung an Ernst wie an Heiterkeit mangelt.»-
Bums! Es mangelt dem Roman auch an saurem Kitsch. Und den vermißt er wohl am meisten. Traut sich nur nicht, es zu sagen. Mit dem Parteibuch in der Hand Bücher rezensieren.
Wenn man mehr Zeit hätte, würde man ein Kritiker-Lexikon schreiben, mit all den Verquasungen dieser Leute. Mit Bild! Und mit Zitaten aus ihren eigenen unveröffentlichten Romanen. Mal aufpassen, vielleicht läuft mir was über den Weg.
TV: Über Chaplin. Die frühen Stummfilme: Die Rollschuhbahn. Ich habe sie auf Band, für alle Fälle. Für welche Fälle? Ich denke
immer: Vielleicht bist du später mal so schwach, daß du zu nichts mehr in der Lage bist, nicht mehr lesen kannst, nicht mehr rumlaufen, nur noch fernsehen. Und dann möchte ich mich nicht dem öffentlichen Angebot ausliefern.
Nartum
Mi 12. April 1989
Bild: RAF-Demo: Polizei räumte Mompers Büro/Er ist Steffis 1. Liebe/Kölner Tennisspieler Alexander Mronz
ND: Tagung des Komitees der Außenminister der Staaten des Warschauer Vertrages in Berlin
Im TV waren die geretteten russischen U-Boot-Matrosen zu sehen. Ich dachte, die wären alle tot. Sie hätten ein vaterländisches Lied gesungen, als sie sich auf die Schlauchinsel gezogen hatten. - Sonderbare weiße Kragen, ich hielt sie für Internatsschüler. Rosige Gesichter. Wieviele deutsche U-Boote noch auf dem Meeresboden liegen. Die Leichen, die Skelette der Matrosen. Gewerkschaftsmensch Breit macht Witze über Autoren, die nicht in die Mediengewerkschaft gehen. Will er, daß wir das eines Tages bereuen?
Im Haus Platzangst wegen der Möbel unserer Schwiegermutter, die hier jetzt untergestellt werden. Unmassen von Stühlen.
Läßliche Sünden.
Im Archiv. Arbeit an der Biographie eines Mannes, der sich«Rädertierchen»nennt. Ein Cellist, der 1945 im Rollstuhl auf die Flucht ging, eine dolle Geschichte. Neben sich führte er stets einen Ersatzrollstuhl mit. Im«Echolot»gut aufgehoben.
Er sei stets gefragt worden, wie er das mit dem Austreten gemacht hat, während der Flucht, sagt seine Frau am Telefon. Das sei doch taktlos. (Ich hatte gerade danach fragen wollen.)
Eigentlich ist diese Biographie der ganz große Stoff. Um Gottes Willen keinem Film-Menschen sagen! Der verkitscht das. - Ich hätte schon Lust, es umzuschreiben. Umgeschrieben werden
müßte es wohl, weil nicht alle Leser so wohlwollend mit Bio-Texten umgehen wie ich.
Das Tagebuch der Sophia kam, ein blaß-lila Taschenbuch, es ist die vierte Biographie aus unserem Archiv. Nicht sehr beeindrukkend, leider hat man die ulkige Orthographie des Originals geändert. Der Charme des Buches ist dahin. Sophia stammt ausgerechnet aus Brockdorf, was ihr eine gewisse Aufmerksamkeit sichert. Ihr Notizbuch war mir nach einer Lesung in Heidenau überreicht worden. Robert hat es geduldig
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