Alkor - Tagebuch 1989
sagen, daß drüben die Städte
zerbröseln. Mit den schadhaften Dächern fängt es an. Wenn’s erst einmal reinregnet, ist bald Feierabend.
Ich las in den Briefen Wilhelm von Humboldts, er meint, daß sein Bruder häßlicher ausgesehen habe als er. Schildert, daß an der Tafel einer Prinzessin die Hälfte der Gäste eingeschlafen sei. Die Nacht dehnen, bis der Stift aus der Hand fällt.
Ich hörte die Berwald-Quartette zum dritten Mal. Allmählich komme ich der Sache näher. Wenn man diese Musik ohne Ton hören könnte!
Nartum
Mo 15. Mai 1989, Pfingstmontag
Herrliches Wetter.
Ich arbeitete wie rasend den ganzen Tag. Heute an allen drei Projekten gleichzeitig: Sobald man wieder zu schreiben anfängt, verliert sich die Angst. Interessant, beim Schreiben einerseits die Übertragung des inneren«Films», andererseits läuft der Korrektor wach nebenher und greift ein, hält bei der Wortwahl Türen offen, die den Zugang zu unvermuteten Bereichen ermöglichen oder provozieren.
Zu dem Hebräer-Motto für M/B keine weitere Erklärung gefunden (Michel, Göttingen-Kommentare). Ich holte mir die Introiten für das Kirchenjahr von Fiebig, die wir in Bautzen sangen, und spielte und sang den Reformations-Introitus:«Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig …»Die Duolen damals haben uns imponiert, Detlef machte ein Arno-Breker-Gesicht, wenn er das dirigierte. Seele und Geist werden geschieden, das ist es, mit«Mark und Bein»ist wohl eher«D-Mark»und«Knochen»gemeint.
Dorfroman: Die Schafe haben sich nun auf dem Bibliothekshof häuslich niedergelassen und alles vollgeschissen, schon seit Tagen. Ich habe saubergemacht und heute einen Strick gespannt, damit sie nicht wieder alles verunreinigen. Eines der Schafe bemerkte die Absperrung - plötzlich heute nachmittag. Es blökte
und rief damit die anderen geradezu empört heran, die auch sofort kamen und sich die Bescherung ziemlich ratlos ansahen. Eine Art Palaver! Ich bin neugierig, welchen Platz sie sich jetzt aussuchen werden. Tagsüber streichen sie durch die Tannen oder liegen auf dem Weg. Ich habe immer ein bißchen Angst vor der Meute, dreh’ mich um, ob sie mir folgen und mich stoßen. Opus 127.
Hildegard mal wieder down. Ich versuche sie aufzurichten. Zur Heiterkeit findet ein Mensch zurück, wenn man sich mit ihm beschäftigt. So muß es auch mit den Deutschen gehen: ihnen zuhören und sie ausreden lassen. Dafür bin ich da.
Valéry gelesen. Etwas absolut Unverständliches zu lesen, regt an. Was meint er bloß? denke ich immerzu und komme dann selbst auf Gedanken. - Ein Trost, daß Léautaud ihn nicht leiden konnte.
Nartum
Di 16. Mai 1989
Bild: Nach Disco-Besuch / 2 Berliner Fußballer totgefahren
ND: Über 750 000 bei Kampfdemonstration der Jugend in den Straßen von Berlin
5 Uhr. - Leider sehr früh aufgewacht. Draußen krächzt eine Krähe, und der Hahn fühlt sich animiert, zurückzukrähen. Um diese Zeit schweigt NDR III noch.
5.40 Uhr. - Suchdienst im Radio.
Aus Schneidemühl werden die Geschwister von Marion Malizewski gesucht. Sie sollen in der DDR leben.
Edgar Lahnstein 1946 beim Grenzübertritt durch Russen verhaftet.
Erich Reichelt aus Flöa, keine Angaben.
K. H. Weidemann wohnte 1957 in Frankfurt.
Ein in Australien lebender Mensch sucht seinen Bruder in Hamburg.
Ein Georg Ehrenreich, der aus westlichem Gewahrsam in die BRD entlassen wurde, von seinem Bruder in Rumänien.
Ob das einer hört?
Am«Echolot»und an M/B gearbeitet.
Dorfroman: Die sechs Schafböcke wurden abgeholt - ich fürchte zum Schlachthof -, statt derer haben wir nun zwei weibliche Tiere. Heute Nachmittag boxten sie sich vor Übermut.«Das sind freche Mädchen», sagte Hildegard. Zu den Böcken hatte sich kein brüderliches Verhältnis eingestellt. Ihre Geschlechtsteile waren einfach zu groß.
Ein Hase lief durch den Garten. Der verbumfeite Körper dieser Tiere ist schon öfter beschrieben worden. Man kann sich nicht genug darüber wundern. Wieso ißt man Hasenbraten gern, verabscheut jedoch Kaninchen? -«Ratten eß’ ich nicht …»- von wem stammt der Ausspruch?
Dorfroman: Die Hühner halten sich gegenüber den Schafen etwas zurück. Die schwarzen, deren Gefieder blauschwarz schimmert, wunderbar, gesund, anhänglich. Eins möchte gern im Haus sein, spaziert durch alle Zimmer, läßt sich auch mit Nachdruck nicht vertreiben. - Der Munterhund liegt unter dem Frühstückstisch und jagt es weg, wenn es ihm zu nahe kommt. Zuerst brummt er mehrmals, je näher,
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