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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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man vielleicht noch hin.
    Ich lese: Hitlers glücklichster Tag. Die Flottenvereinbarung zwischen Drittem Reich und Großbritannien. London, 18. Juni 1935. - Später dann ohne Grund gekündigt.
    Über den Pazifismus als Wegbereiter Hitlers. Clement Attlee 1935:«In nationalen Rüstungen liegt keine Sicherheit.»
    1939 nach Hitlers Einzug in Prag:«Wir sind gegen die Wehrpflicht. Sie wird das Land schwächen …»
    Daß die Düsenjäger über unser Haus donnern, ist mir nicht
recht, aber ich freue mich, daß sie da sind. Ich habe schon gedacht, man müßte im Ernstfall alle Schützenvereine bewaffnen. Mehrere Dörfer zu Gewalthaufen formieren. Jeder Schützenverein ein MG und fünf Panzerfäuste.
    Wenn ich morgens beim Pinkeln aus dem Fenster gucke, bin ich immer ganz sprachlos über die schöne Aussicht.«Mein Gott …», denke ich dann. Das hätte man sich nicht träumen lassen. Frau Pfeifenbring:
    Der Mann baut das Haus,
und die Frau schmückt es aus.
    Hildegard: Nee, das tut er auch noch.

Nartum
So 21. Mai 1989
    Welt am Sonntag: Dramatische Zuspitzung in Peking/Kriegsrecht und Panzer in Chinas Hauptstadt/Aufruhr erfaßt jetzt auch die Provinzen
    Sonntag: Kunst braucht Öffentlichkeit. Mit Professor Claus Dietel sprach Reinhart Grahl
     
    Vor dem Frühstück spielte ich ein paar Choräle, wie Vater es immer tat. Dazu das Klappern der Teller aus der Küche. Toast. Auf der Straße rudeln Radfahrergruppen vorüber, ältere Landfrauen. Man hört, wie sie sich was zurufen. - Der Garten ist absolut explodiert, die Tannen, trotz Insektenbefalls, strecken grüne Finger in die Gegend. Ginster, jede Menge Flieder; die Vogelbeeren sind schon verblüht.
    Ich setzte mich am Nachmittag auf meinen Haselnußplatz und sang aus der«Geselligen Zeit»Maienlieder - fünfstimmig, d. h., ich sang die einzelnen Stimmen nacheinander, wie ich es in Bautzen tat:
    Wohl kommt der Mai
mit mancherlei
der Blümlein zart
nach seiner Art
erquicket das verdorben war
durch Winters G’walt
das freuet sich ganz mannigfalt.
    Nicht für Geld und gute Worte kriege ich liebe Menschen hierher, die das mit mir singen.
    Eigenartig dies tiefere Eindringen in den eigenen Text. Das geschieht jetzt mit«Mark und Bein». Es öffnen sich im Text unvermutete Bereiche, die ich dann durchmustere und«verworte». Ich nenne das den Adventskalender-Effekt. Man muß nur lange genug warten, dann kommen die Bilder. Auch das Plankton: mein persönlichstes Plankton.
    Die Gegenden, in denen sich nichts«öffnet», sind fast interessanter.
    Weiter in dem Buch über«Hitlers glücklichsten Tag». Ingrim schreibt in seinem Vorwort:«Der Reiz, dem jedes Buch seine Entstehung verdankt, ist im vorliegenden Fall Gereiztheit. Ich fühle mich herausgefordert, wenn über Ereignisse, die ich selbst miterlebt habe, falsch Zeugnis gegeben wird.»
    Dieser Reiz treibt auch meine Arbeit am«Echolot»an. Der Bogen, der um die Ereignisse in Ostpreußen 1945 gemacht wird. Nicht Aufrechnung ist mein Anliegen, sondern das Sichtbarmachen von Ursache und Wirkung. Der Strom der KZler quer durch die Trecks der Flüchtlinge. Das gehört doch zusammen.
    Still, still, still, weil’s Kindlein schlafen will …

Nartum
Mo 22. Mai 1989
    Bild: 6:3, 6:1 - Steffi fegte Sabatini vom Platz
    ND: Friedensfahrt endete mit Triumph der DDR-Fahrer

     
    Ich kaufte in Oldenburg in der Carl-von-Ossietzky-Buchhandlung«Funny Fotos»für 19,80 DM. Schwankte, ob ich von Enzensberger (aus seiner Bibliothek) die Apokryphen des NT kaufen sollte. Da ich die Luther-Bibel von 1875 besitze, was mir noch rechtzeitig einfiel, lasse ich es. Mit den modernen Übersetzungen kann man ganz schön reinfallen. - Das ist ein schlimmes Kapitel.
    Von Kempowski ist in dieser Buchhandlung nix vorhanden, Kempowski ist out. Nicht einmal die Fibel haben sie vorrätig. Bei«Ali Baba»gegessen, 46,70 DM.«Spiegel»studiert. In Zukunft wird die Lektüre des«Spiegel»immer mit dem Geschmack türkischen Essens verbunden sein.
    «Man findet kaum einen Professor, der einem nicht den Vogel zeigt, wenn man über Kempowski promovieren will», wurde mir mitgeteilt.
    Zwangsvorstellung: Ich müßte mit dem linken Schneidezahn eine schon festsitzende Schraube anziehen.
    Wimschneider gekauft,«Herbstmilch». Die Zacharias ist viel besser, eben drum hat sich ihr Buch nicht verkauft, und auch wegen der Stieseligkeit unseres Verlages nicht.
    Bernhard,«Beton». - Kundera.
    Knaus tut so, als seien die«Hundstage»mein erstes«richtiges Buch», und er spricht es

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