All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman
damit, dass sie Runen liest und aus dem Altenglischen übersetzt. Ich bin da selbst nie ganz durchgestiegen.« Er sah auf die vorüberziehende Landschaft hinaus. »Sie sagen, das Opfer war in der örtlichen Bücherei beschäftigt. Wie kann man sich mit dem Gehalt einer Bibliothekarin eigentlich Yves Saint Laurent leisten?«
»Gar nicht.« Cummins lachte. »Und auch nicht die Schuhe.« Sie näherten sich einem Kreisverkehr. »Außer, sie hat ein Paar von meiner Frau bekommen.«
»Von Ihrer Frau?«
»Chris hat sie alle: Jimmy Choo, Prada, Gucci, Tod’s, Blahnik, die ganze Palette.«
Jury staunte. Er war ziemlich baff, da er sich vorstellen konnte, dass das Gehalt eines hiesigen Polizisten vermutlich bloß geringfügig höher war als das einer Bibliothekarin.
»Chris wusste sofort, von wem die Schuhe waren. Auf dem Foto …« Cummins merkte, dass er sich verplappert hatte, und brach ab.
Jury musterte ihn von der Seite. »Polizeifotos?«
»Okay, ich hab ihr bloß das von den Schuhen gezeigt. Ich weiß, das darf ich nicht …«
»So ist es.«
»Es ist bloß … also, Chris …« Während er auf dem Kreisverkehr manövrierte, verstummte er wieder.
Die offensichtliche Verlegenheit des Sergeanten rührte Jury an. »Chris hat also einen Schuhtick.« Er lachte.
Erleichtert stimmte Cummins ein. »O Gott, ja. Sie müssen sie unbedingt kennenlernen.«
»Gern. Sie klingt faszinierend. Aber zuerst schauen wir in der Bücherei vorbei.«
Mary Chivers gehörte zu den Leuten, die alle Polizisten unabhängig von ihrem Rang »Inspektor« nannte: Constable, Sergeant oder Superintendent. Detective Sergeant Cummins wurde mit den gleichen Inspektorehren gesalbt wie Superintendent Jury.
Mary Chivers hatte gerade ein Buch in der Hand und pustete den Staub vom Rücken, als sie eintraten. Irgendwie gefiel es Jury, zu sehen, wie jemand Staub von einem Buch pustete. Miss Chivers war eine kompakte, kleine Person, bei der man sich sicher sein konnte, dass die Bücher in guten Händen waren. Überhaupt fühlte sich die kleine Bücherei mit ihrer wispernden Stille wie ein konspirativer Ort an, wie ein Sanktuarium. Das Wispern kam von drei Frauen an einem Lesetisch, die Neuigkeiten oder Geheimnisse austauschten.
Sergeant Cummins, der Mary Chivers zusammen mit Kollegen schon vorher befragt hatte, stellte Jury vor.
»Zuerst konnte ich es gar nicht glauben«, sagte sie auf Jurys Frage hin. »Ich konnte einfach nicht glauben , dass die Tote Mariah Cox war. Ich will damit nicht sagen, dass ich sie nicht erkannt hätte, das habe ich ja, trotz der rötlichen Haare – ich musste dann aber doch zweimal hinschauen, das kann ich Ihnen sagen. Es lag an den ganzen Umständen: Wo sie gefunden wurde, wie sie angezogen war. Darum ist es ja völlig verständlich, dass Edna sich geirrt hatte. Die arme Edna.« Bei diesen Worten fuhr Mary Chivers mit der Hand über den Umschlag des Buches, das sie immer noch festhielt, und ihr Blick schweifte über die hohen Bücherstapel, als wollte sie sich vergewissern, dass sie nicht weggelaufen waren.
Sie fuhr fort: »Mariah war unscheinbar, hatte aber gute Proportionen. Ja, mit dem richtigen Make-up und ein bisschen Geschick könnte sie sich ein anderes Gesicht geben. Ja, das kann ich mir vorstellen …«
»Hat sie sich mit Ihren anderen Mitarbeitern denn gut verstanden?«, wollte Jury wissen.
»Selbstverständlich.«
»Niemand hatte etwas gegen sie oder war eifersüchtig auf sie oder hatte Ihres Wissens einen Grund, ihr schaden zu wollen?«
Mary Chivers schüttelte bedächtig und dabei nachdrücklich den Kopf. »Verstehen Sie, Inspektor, Mariah Cox war ein wirklich netter Mensch – absolut verlässlich, gewissenhaft, freundlich. Sie war still, zurückhaltend, eine von diesen Frauen, die sich mehr oder weniger im Hintergrund halten. Mariah fiel überhaupt nicht auf.«
Fiel nicht auf. Mariah hatte kein Wässerchen trüben können und sich dabei in eine reizende, anspruchsvolle und – wie Jury immer mehr vermutete – käufliche Liebesdienerin verwandelt. Jury interessierte nicht so sehr die Frage, dass sie es getan hatte, sondern warum.
Edna Cox bewohnte das letzte von mehreren Reihenhäuschen, mit Spitzenvorhängen am Vorderfenster. Das Haus sah an sich schon reichlich deprimierend aus, doch nun wirkte es durch den Schatten eines Todesfalls in der Familie gar so düster wie die Moore von North York.
Edna Cox wollte offenbar immer noch nicht wahrhaben, dass es sich bei der Toten auf dem
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