All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman
Polizeifoto um ihre Nichte handelte. »Sie kennen doch meine Mariah, Mr. Cummins«, sagte sie, als wäre damit alles gesagt.
Sergeant Cummins sagte: »Sie war nicht so, da stimme ich Ihnen zu, aber …«
Ein Aber wollte Edna Cox jedoch nicht gelten lassen. Sitzen konnte man es nicht nennen, so wie sie auf der Kante eines Polstersessels kauerte. Wenn sie noch ein Stückchen weiter vorrückte, würde sie auf dem Häkelteppich landen.
»Ich sagte es schon, und ich sage es noch mal: Solche Kleider besitzt Mariah nicht. Und ihr Haar – hatte nie diese Farbe. Haben Sie schon mit Bobby gesprochen? Die beiden haben sich vor knapp zwei Wochen verlobt.«
»Nein, noch nicht«, sagte Jury. »Bobby …?«
Edna Cox wandte den Blick ab, offensichtlich war sie mit Antworten fertig.
»Sie meint Bobby Devlin«, erläuterte Cummins. »Bobby hat den Blumenstand neben dem Bahnhof. Netter Kerl.«
Da brach es aus Edna Cox hervor: »Mariah würde nie solche spitzen Sandalen tragen, ausgeschlossen, nur über ihre Leiche.«
Eine etwas unglückliche Wortwahl, fand Jury.
»Sie hatte ja auch gar nicht das Geld dafür. Für solche Schuhe oder so ein Kleid. Die würden sie doch glatt ein halbes Jahresgehalt kosten.«
Jury hatte ein gerahmtes Foto von Mariah Cox in die Hand genommen und betrachtete es nun eingehend. Darauf war ein unscheinbares Mädchen zu sehen mit schulterlangem, glattem dunklen Haar und wirren Ponyfransen, hinter denen ihre Augen
fast verschwanden. Doch Mary Chivers hatte recht: Man konnte die Proportionen erkennen, und die stimmten. Es war genau die Art von Gesicht, bei dem jemand, der in der Schminkkunst bewandert war, wahre Wunder vollbringen konnte. Vielleicht besaß Mariah selbst dieses Gabe, vielleicht hatte sie viel Übung darin gehabt, ein anderes Gesicht aufzusetzen. Er stellte das Foto auf einem Sofatisch mit Glasplatte ab, der überhaupt nicht zum restlichen Mobiliar passte, und sagte: »Sie war schon öfters weg gewesen, nicht wahr?«
»Nun, ja, die meisten Wochenenden, und manchmal übernachtete sie in London bei dieser ehemaligen Schulfreundin …« Sie schaute auf den Teppich zu ihren Füßen, während ihre Stimme sich allmählich verlor.
»Mrs. Cox, ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, Ihre Nichte könnte ein Doppelleben führen?« Jury beugte sich vor und bemühte sich so zu klingen, als sei es das Normalste von der Welt, ein Doppelleben.
Ihr Kopf fuhr hoch. »Was sagen Sie da?« Offenkundig wenig überzeugt von ihrer eigenen Einschätzung, hörte sie sich an wie jemand, der sich verzweifelt bemüht, etwas nicht wahrzuhaben.
»Vielleicht wollten Sie einfach nicht, dass diese Frau Mariah ist.«
Ihre Schultern strafften sich, als wollte sie gleich auf Jury losgehen. »Sie behaupten also, ich hätte gelogen.«
»Keineswegs. Ich glaube nur, Sie haben sich geirrt, das ist alles.« Er griff wieder nach dem Bild, das er auf den Tisch gestellt hatte. »Glattes braunes Haar und Ponyfransen bis fast über die Augen. Ungeschminkt. Das genaue Gegenteil von der jungen Frau, die ermordet wurde. Das meine ich mit Doppelleben. Sie sehen aus wie zwei verschiedene Frauen. Dem Arzt, der aus dem Ort stammt, kam die Frau bekannt vor. Einer anderen Zeugin auch. Sie verstehen, was ich meine.«
Mittlerweile hielt Edna Cox das Taschentuch, das sie aus dem
Ärmel gezogen hatte, fest gegen den Mund gepresst und schüttelte den Kopf. »Ich kann’s nicht glauben.«
Tat sie aber doch. Die ganze Zeit schon. Jury lehnte sich zurück, um ihr etwas Abstand zu gewähren. Er blickte um sich, und die Freudlosigkeit des Raumes fiel ihm auf – die faden Brauntöne, das Regentagsgrau. Es passte zu dem Mädchen auf dem Foto auf dem Tisch. Nein, das stimmte nicht: Das Mädchen war nicht fad und trostlos. Und der Raum war eher traurig als fad und trostlos. Die Stimmung im Raum schien beladen von Traurigkeit. Oder vielleicht war es seine eigene Traurigkeit. Es tat ihm leid, dass er Edna Cox ihre heile Welt nicht lassen konnte.
Es gab jede Menge Beweismittel, die belegten, dass die beiden Frauen dieselbe waren: DNA, Gebiss, Fingerabdrücke.
»Sie sagten etwas von einer Londoner Freundin. Kennen Sie ihren Namen?«
»Ach, ich kann das doch gar nicht alles behalten. Angela, glaube ich … Adele – der Nachname ist, glaube ich, Astaire. So wie der Tänzer, glaub ich. Ja, so nannte sie sich. So etwas Läppisches.«
»Es ist also nicht ihr richtiger Name?«
»Nein, Mariah sagte, das sei bloß ihr Name fürs Geschäft. Was immer
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