All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman
Name war, wie sie ihm rasch versicherte; offensichtlich war ihr der »Künstlername« doch ein wenig peinlich. Und sie sah noch viel jünger aus, als sie vermutlich war. Ihr braunes Haar war zu zwei Rattenschwänzen zusammengebunden, die ungleichmäßigen Ponyfransen fielen ihr in die Stirn, so dass sie sie immer wieder zur Seite streichen musste, und sie trug ein rosa-weiß gestreiftes Hängerkleidchen, das nicht viel Figur erkennen ließ. So etwas hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen, bestimmt kaufte sie ihre Sachen in einem Laden für Retro-Mode. An den Füßen trug sie Puschelschlappen.
Die Wohnung war ordentlich aufgeräumt und mit abgenutzten
Stühlen und einem kleinen cremefarbenen Sofa möbliert. In einem in die Wand eingelassenen Bücherregal mit Rundbogen standen ein paar Beatrix-Potter-Figürchen – er erkannte Benjamin Bunny, denn den hatte er als Kind auch gehabt. Auf einem Beistelltischchen stand eine Paddington-Bär-Lampe.
»Eigentlich heiße ich Rose, Rose Moss«, sagte sie. »Die meisten nennen mich Rosie.«
Jury lächelte, denn ihm fiel eines der kleinen Mädchen ein, die sie damals aus dem Etablissement in der Hester Street befreit hatten. Sein Lächeln erstarb jedoch, als er sich an den Schrank mit Kleidchen erinnerte, Miniaturversionen der Art von Aufmachungen, die auch Rosie womöglich hier in ihrem Schrank hatte. In der Hester Street war es ein Kinderschänderring gewesen. Das klitzekleine Mädchen dort hatte ebenfalls Rosie geheißen.
Rosie sagte: »Blanche Vann – das ist die Chefin, da, wo ich arbeite -, die meint, wir müssten falsche Namen haben, damit uns keiner findet. Als ob uns die Kunden nicht besuchen kommen oder uns mitten in der Nacht anrufen, was?«
Damit keiner uns findet. So deutlich die Abdrücke der Jimmy Choo-Schuhe auch waren, wer weiß, ob sie wirklich zum Mörder führten?
Ungebeten hatte Rosie ihm bereits eine ganze Menge an Informationen gegeben. Nach ihrer Arbeit hatte er überhaupt nicht gefragt.
»Ich dachte mir eben«, fuhr sie fort. »Rosie klingt nicht so niveauvoll. Irgendwie kindisch.«
Was übrigens perfekt zu ihr passte, denn so sah sie aus, und kindlich wirkte es, wie sie sich eine widerspenstige dunkle Haarlocke um den Finger wand. Kein Make-up. Eine Haut so blass und glatt wie Sand, wenn die Wellen zurückweichen. Staunende braune Augen, ein hübsches Näschen.
»Es ist nämlich so«, fuhr sie fort, nachdem sie sich auf dem Sofa niedergelassen hatten, und es war, als hätte sie seine Gedanken
gelesen, »auf mich stehen die Kunden, die so Kleinmädchen-Fantasien haben, Sie verstehen schon.«
Ja, die bewegen sich hart an der Grenze zur Kinderschänderei. Wieder musste er an die Hester Street denken.
»Ich kann mich verkleiden – ich hab so Schulmädchenkostüme …«
Als Kind war sie bestimmt ganz entzückend gewesen, dachte Jury und merkte, wie er bei dem Gedanken sofort rot wurde. Dabei fragte er sich, ob ein Kinderschänder vielleicht die Frau in dem Kind erblickte, das Kind, das die Frau auf Abstand hält. Eine seltsame Verkehrung von Frau und Kind.
»Ich kann aber natürlich auch erwachsen sein, wenn es verlangt wird.« Sie zündete sich eine Zigarette an.
Was für eine trostlose Bemerkung. Er musste jedoch unwillkürlich schmunzeln, als er sah, wie sie mit ihrer Zigarette hantierte, den Rauch in kleinen Wölkchen ausstieß, seitlich, um ihn nicht in seine Richtung zu blasen. Sie machte es Bette Davis nach. Niemand rauchte, wie Bette Davis geraucht hatte. Alles über Eva . »Ich bin den ganzen Weg gerannt«, hatte Phyllis Nancy gesagt, als sie vom Regen durchnässt in seiner Tür stand. Lu Aguilar. Der zertrümmerte Wagen. Jury versuchte, das alles auszublenden.
»… nervös, wissen Sie.«
Ihre ersten Worte waren ihm entgangen. »Nervös?«
»Weil Sie doch von Scotland Yard sind.«
»Müssen Sie aber nicht. Es ist reine Routine. Wir brauchen nur Ihre Hilfe bei Informationen über Stacy – den Namen hat sie doch benutzt, Stacy Storm.« Was für traurig gekünstelte Fantasienamen. »Mariah Cox war ihr echter Name.«
»Ich weiß. Ich versteh aber nicht, wie ich da groß dabei helfen soll.«
»Ihre Freundschaft mit ihr könnte wichtig sein. Sie würden sich wundern, wie dürftig unsere Informationen über sie bisher sind.«
Rosie nahm ihr Glas, Whisky oder Tee, und ließ die Eiswürfel darin klackern. »Also, ich weiß nicht, ob ich es direkt Freundschaft nennen würde. Sie hat ja nie, äh, fast nie über ihr anderes Leben
Weitere Kostenlose Bücher