All unsere Traeume - Roman
zimmerfenster vorbeiging, das helle Haar ihrer Mutter.
Alle Grübeleien waren vergessen, alle Bedenken wie weggeblasen. Sie brauchte den Kuss und die Streicheleinheiten, das Besänftigtwerden und die Arme ihrer Mutter. Claire rannte los, ihre Schuhe rutschten auf dem Kies und dem Gras aus, sie hatte die Hände vor sich ausgestreckt. Sie erreichte die Tür, riss sie auf und stürzte ins Wohnzimmer, in dem ihre Mutter vor sich hin summend in einem Hauskleid und Hausschuhen stand. Stapel mit Bügelwäsche lagen auf dem Sofa und den Sesseln. Das Licht, das schräg durch die Fenster fiel, beschien ihre Haare, früher blond, jetzt hellgrau.
»Mum«, sagte Claire, und ihre Mutter blickte erschro cken auf. Ihr Gesicht verzog sich sofort zu einem warmen Lächeln. Keine Überraschung, keine Fragen, bloß Freude. Sie stellte das Bügeleisen ab.
»Liebling!«, sagte sie und breitete die Arme aus.
Als Claires Vater vom Einkaufen nach Hause kam, schickte ihre Mutter ihn wieder los ins Pub und sagte ihm, er solle irgendwann mit Fish und Chips zurückkommen, aber ja nicht so bald. Die Bügelwäsche blieb liegen, und sie machten es sich in der Küche gemütlich – was in Louisa Hardys Küche niemandem schwerfiel: mit der großen, rustikalen Spüle, dem Herd, der immer in Betrieb war, den frischen Blumen, dem Gemüse und dem abgenutzten Holztisch mit dem bunten Tischtuch. Sie ähnelte Claires Küche sehr. Es schien die einzig richtige Art von Küche zu sein. Ihre Mutter holte Teegebäck aus der Gefriertruhe, und sie steckten es in den Toaster und leerten mehrere Kannen Tee und Taschentuchpackungen, während Claire ihrer Mutter alles erzählte, was sich zugetragen hatte. Romilys Unfall, Bens Beschützerinstinkt, die ganze Zeit, die er bei der Arbeit und bei Romily anstatt mit ihr verbracht hatte. Das Foto, die Briefe, die Art, wie sie Ben fortgeschickt hatte.
Louisa hielt die ganze Zeit über Claires Hand und fuhr ihr mit ihrem weichen Daumen über den Handrücken. Claire redete und redete und redete, überrascht, dass immer noch mehr kam, obwohl sie geglaubt hatte, längst leer zu sein.
Als Claire schließlich schwieg, seufzte ihre Mutter.
»Was wird mit dem Baby geschehen, Liebes?«
»Du hast gesagt, dass die ganze Idee unvernünftig sei. Ich habe nicht auf dich gehört.«
»Es bereitet mir keine Genugtuung, recht zu behalten.« Sie drückte Claires Hand.
»Du warst nicht die Einzige. Ich habe mir selbst Sorgen gemacht. Aber dann habe ich Romily besser kennengelernt. Ich … Ich mochte sie.«
»Du bist ein guter Mensch, Claire. Du magst die Menschen.«
»Wie kommt es dann, dass ich keine Freunde habe?«
»Du hast Freunde.«
»Eigentlich nicht. Ich habe mich schon so lange niemandem mehr geöffnet, Mum. Ich habe es nicht ertragen, Kinder um mich zu haben. Ich habe es sogar schwierig gefunden, bei Helen zu sein.«
»Oh, meine Süße. Ich weiß.«
»Schwanger zu werden war immer das unerreichbare Ziel. Jahrelang habe ich an nichts anderes gedacht. Ich weiß nicht, an was ich sonst denken soll.«
»Denk an dich«, meinte ihre Mutter bestimmt. »Ein Baby bleibt nicht ewig ein Baby. Es wächst heran und zieht fort. Das ist natürlich gut so, aber alles, was dir dann noch bleibt, bist du selbst. Als du und Ian und Helen ausgezogen seid, war ich schrecklich einsam. Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Euer Vater hat euch natürlich auch vermisst, aber er hatte sein Büro, seine Hobbys. Ich hatte nichts Eigenes. Alles, was ich hatte, wart ihr und dieses Haus. Das Haus war leer, und ihr hattet euer eigenes Leben.«
Claire starrte ihre Mutter an. Das war etwas Neues, wie die noch nicht gebügelte Wäsche und die Bitte um Fish und Chips. »Das … Das habe ich nicht gewusst. Es tut mir leid.«
Louisa machte eine wegwerfende Geste. »Es ist besser geworden. Ich arbeite noch daran. Aber was ich damit meine, Claire, ist Folgendes: Ein Baby ist keine Lösung. Es ist nichts, was man hat, nur damit es einen glücklich macht. Es sorgt dafür, dass du rund um die Uhr zu tun hast, aber das ist nicht dasselbe, wie glücklich zu sein. Man muss das Baby an sich haben wollen, nicht, weil es etwas ist, das von einem erwartet wird oder das man zu brauchen glaubt. Ich habe mit angesehen, wie du dich so lange danach verzehrt hast. Darüber kann man die guten Dinge vergessen, die man hat.«
»Welche guten Dinge habe ich denn?«
»Du bist eine wunderbare Frau. Eine begabte Musikerin und eine talentierte Lehrerin. Ich bin so stolz auf dich,
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