Allan - Die Suche nach dem Ich (Band 2) (German Edition)
dunklem Stein standen an den Wänden, welche abstruse Götzenbilder zeigten. Wenn dies die Götter Heravinas waren, waren sie so gar nicht wie die tylonischen. Sie waren mit Narben und Beulen gezeichnet und zogen grässliche Grimassen. Ihre Münder und Augen waren weit und schräg aufgerissen. Ihre Nasen hingegen waren entweder spitz und lang - sie erinnerten an die Hexennasen, die Allan aus den Märchen kannte, welche Igos ihm, als er noch ein kleines Kind gewesen war, vorgelesen hatte - oder platt und eingedrückt. Sie schienen in das Innere des Gesichts zu zeigen statt nach außen. Was ihm jedoch viel größere Sorgen bereitete, waren die Totenschädel, die an den Wänden hingen. Es waren Menschenschädel. Entweder behielten sie die Schädel ihrer Verstorbenen oder ... Sie waren doch hoffentlich nicht in die Hände von Kopfjägern geraten. Allan lief es eiskalt über den Rücken und auch Sinalia konnte er ansehen, wie es sie schauderte.
Ohne ein Wort zu sagen, verließ Brent den Raum, aber von Igos war keine Spur. Ihnen blieb nichts anderes übrig als zu warten. Eine dunkle Steinbank stand inmitten des Gemachs, doch dachte niemand daran, dort Platz zu nehmen. Sie wirkte genauso schauerlich wie die restlichen Möbel, welche ebenso aus massivem Stein bestanden. Allans Gedanken an das Mobiliar wurden plötzlich unterbrochen. Sinalia stöhnte auf und drückte ihre Hände auf den Bauch. Sie krümmte sich.
»Sinalia, was ist mit dir?«, fragte er besorgt. Sie schüttelte nur den Kopf. Er schaute auf ihren Leib und erschrak. Unter ihrer Kleidung war es kaum aufgefallen, doch nun, wo sich durch ihren Griff das Hemd straffte, sah er es ganz deutlich: Ihr Unterleib war angeschwollen, gar dick geworden. Sie zuckte zusammen. Scheinbar kam eine erneute Schmerzwelle. Dann bekam er zu sehen, wie sich ihr Leib beulte, von innen nach außen, wie bei Babytritten. Sie hatte beteuert, nicht schwanger zu sein. Und selbst wenn: Niemals würde ein Kind im Unterleib so schnell wachsen. Vor einigen Tagen war noch nichts zu erkennen gewesen, und jetzt schien es, als hätte der vermeintliche Fötus enorm an Größe hinzugewonnen. Irgendetwas stimmte nicht mit seiner Freundin und das beunruhigte ihn sehr.
Obwohl die Sonne in der Maryka-Stätte nicht unterging, spürte Allan, dass es Abend wurde. Zwar hatte er sich in Brents Gemach ein wenig ausruhen können, jedoch war er immer noch erschöpft. Er müsste wahrlich tief und lange durchschlafen, um seine Reserven vollständig auffüllen zu können. Doch dafür war keine Zeit. Im nächsten Augenblick schlug die Zimmertür auf. Sie wandten sich erschrocken um und erblickten Igos. Allan hatte ihn bis jetzt nur aus der Ferne gesehen. Als er ihn nun von Nahem sah, verschlug es ihm die Sprache. Wie hatte sich ein Mensch in einem Jahr nur so verändern können? Er war genauso gekleidet und tätowiert wie Brent, sein einst glattes Haar war filzig geworden. Einzelne fettige Strähnen fielen aus dem Zopf in sein Gesicht. Sein gesamter Körper wirkte ungepflegt und ließ sehr zu wünschen übrig. Die Haut war braun, beinahe verbrannt, Ruß und Dreck waren deutlich unter seinen Finger- und Zehennägeln zu erkennen - ganz zu schweigen von seinen Zähnen, die scheinbar lange keine Pflege gesehen hatten. Doch eins erschütterte Allan noch viel mehr: der Ausdruck in Igos´ Gesicht - vielmehr in seinen Augen. Sie blitzten ihn düster an, es wirkte, als hätte der Frevel Einzug erhalten.
Ohne ein Wort zu sagen, ließ er die schwere Steintür hinter sich zufallen und ging an ihnen vorbei. Er blieb neben einer der Statuen stehen, wandte sich um und blickte sie weiterhin mit düsteren Augen an. Dann sprach er mit überraschend weicher Stimme: »Was hat euch hierhergeführt?«
Allan wunderte es, dass er in keinster Weise darauf reagierte, ihn hier wiederzusehen. Hatte er ihn etwa vergessen?
»Igos ...«
»Igo´ Rabtoris«, unterbrach ihn der alte Mann.
»Igo´ Rabtoris. Kennst du mich nicht mehr? Ich bin es, Allan.«
»Aber natürlich kenne ich dich noch, mein Junge. Warum sollte ich dich vergessen haben?« Seine Augen blitzten erneut. Was war nur mit ihm geschehen? So kannte er den Ältesten überhaupt nicht. Über ein Jahr was es her, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Wieso freute er sich nicht, ihn hier anzutreffen? Allan hatte sich gefreut, doch mit jedem Atemzug, mit jedem Augenkontakt zu Igos, schwand diese Freude. Er erkannte seinen Ziehvater nicht wieder.
»War nur so ein Gedanke.«
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