Alle auf Anfang - Roman
richtig?«
Diesmal wartet er das Nicken gar nicht erst ab. Immer lauter wird seine Stimme, immer heftiger schleudert er dem Jungen die Sätze ins Gesicht.
»So ein Globetrotter, wahrscheinlich Extrembergsteiger, Tiefseetaucher, Bungeejumper, und außerdem beschützt er noch den Regenwald und rettet arme afrikanische Kinder eigenhändig vor dem Verdursten. Was? Und dann steigst du zu mir ins Auto, nachdem du Sohn dieses Supermans eine unschuldige Frau in einen Unfall getrieben hast, und ich Idiot nehme dich mit und versuche dir zu helfen, und jetzt willst du mir einreden, ich wäre dein Vater, oder was? Mach, dass du rauskommst!«
Jasper sitzt geduckt da, als ob er die Sätze abwehren wollte.
Er sagt immer noch nichts.
»Wie alt bist du?«, will Anselm wissen.
»Fünfzehn.«
Fast ohne Stimme hat Jasper das gesagt.
»Ehrlich? Ich hätte dich älter geschätzt.« Er registriert, dass den Jungen diese Bemerkung freut. »Rechne doch mal nach. Vor fünfzehn Jahren war ich … war ich gerade noch am Bielefelder Stadttheater. War deine Mutter je in Bielefeld?«
Jasper zuckt die Schultern.
»Wie heißt deine Mutter?«
»Alma.«
»Ich kenne keine Alma.«
Wieder zuckt Jasper mit den Schultern.
»Was immer du mir damit sagen willst, mein Freund«, schreit Anselm ihn an, »ich weiß genau, wie die Frauen heißen, mit denen ich schlafe. Und ich habe keine einzige von ihnen geschwängert, glaub mir. Ich bin ganz bestimmt nicht dein Vater. Und jetzt steig aus meinem Auto!«
Er beugt sich über den Jungen und öffnet die Beifahrertür. Jasper bleibt sitzen.
»Bist du schwerhörig? Raus, habe ich gesagt!«
Laut hallt Anselms Stimme über den leeren Parkplatz. Der Junge unternimmt keinerlei Anstalten, sich abzuschnallen. Reglos sitzt er da. Spielstopp.
»Was glaubst du denn, wer du bist?«, brüllt Anselm weiter und lässt den Gurt aufschnappen. »Gott? Das Schicksal?«
Er wird immer wütender. Der ganze Irrsinn dieser nächtlichen Autobahnraserei steigt ihm zu Kopf. Er springt aus dem Auto, läuft in drei, vier Schritten um die Kühlerhaube zur anderen Seite und zerrt den Jungen aus dem Wagen.
»Such dir doch in deiner bescheuerten Ghost Family einen Vater! Die haben bestimmt einen übrig für dich, so einen … einen Cyberdaddy!«
Dann springt er wieder ins Auto und lässt den Motor an. Gibt Gas. Fährt ein paar Meter und sieht dabei in den Rückspiegel. Sieht Jasper dastehen und ihm nachschauen. Sieht, wie er die Clownsmaske vor das Gesicht zieht. Wie er die Arme sinken lässt, wie er zurückbleibt mit hängenden Schultern und der grinsenden Fratze, dem einzigen hellen Fleck in der Dunkelheit. Ein gefeuerter Komödiant, denkt Anselm, tritt wie von selbst aufs Bremspedal, legt den Rückwärtsgang ein und rast mit hohem Tempo auf Jasper zu. Kurz vor ihm bremst er heftig, dass die Bremsen quietschen. Er drückt die Beifahrertür auf. Langsam zieht Jasper die Maske ab und steigt ein.
»Ich sag dir mal was«, erklärt Anselm, »dein Vater ist ein Scheißtyp. Und jetzt steuern wir die nächste Raststätte an und trinken erst mal was.«
Sie trafen sich alle auf der Probebühne
Leseprobe. Zusammen mit Heike, der Regieassistentin, stellte Claudia Stühle im Kreis auf. Währenddessen trafen die Schauspieler ein, zu zweit oder zu dritt, manche allein. Viele gingen gleich auf Heike zu und fragten nach den Probeplänen der nächsten Tage, ob sie mal einen Tag freinehmen könnten, ob Heike auch mitkäme nach Dortmund, wohin ein Kollege gewechselt war und wo in ein paar Tagen Premiere sei. Sofort stellte Heike jedem Claudia vor. Manche der Schauspieler waren ihr gleich sympathisch, andere waren ihr zu laut oder auch zu unnahbar. »Das ist der, von dem ich dir erzählt habe«, raunte Heike ihr zu, nachdem Anselm ihr zur Begrüßung knapp zugenickt und sich dann zu einer Kollegin gesetzt hatte, »der, vor dem du dich in Acht nehmen musst.« Dann erschien Frank Schröder, der Regisseur. Ihn hatte Claudia schon am Abend vorher kennengelernt, in der Kantine, wo er sie auf einen Kaffee eingeladen und ihr dann ein mit leeren Seiten durchschossenes Textbuch überreicht hatte. Hospitantin heiße zwar Besucherin, hatte er ihr gesagt, doch er wolle, dass sie genau dasselbe wie Heike mache. Sie solle bei den Proben mitschreiben und den Schauspielern helfen, sich am nächsten Morgen an all das zu erinnern, was am Tag zuvor erarbeitet worden sei.
Anschließend waren Frank, Heike und Claudia gemeinsam in die Abendvorstellung gegangen und
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