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Alle auf Anfang - Roman

Alle auf Anfang - Roman

Titel: Alle auf Anfang - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Zaplin
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hatten sich »Hamlet« angesehen, eine frühere Inszenierung von Frank, in der fast alle mitspielten, die jetzt hier im Kreis saßen. Claudia saß zwischen Heike und Frank und sah nacheinander alle Schauspieler an. Sie sah in Gesichter, die Lust und Lächeln probierten, in konzentriert verschlossene Gesichter und in solche, die auf etwas zu warten schienen. Sie versuchte, nicht bei Anselms Gesicht zu verharren, doch es gelang ihr nicht. Irgendwas hielt sie fest, sein Grinsen, vielleicht auch nur das, was Heike von ihm erzählt hatte. »Der sorgt für Unglück«, hatte sie gesagt. Gerade, als sie ihren Blick wieder weiterwandern lassen wollte, sah er ihr direkt in die Augen. Was willst du?, glaubte sie ihn fragen zu hören. Erschrocken sah sie zu seinem Nachbarn und von diesem weiter im Kreis.
    »Woyzeck«, las Frank Schröder mit fester Stimme, »freies Feld. Die Stadt in der Ferne. Woyzeck und Andres schneiden Stöcke im Gebüsch.« Einen Augenblick blieb es still. Dann rutschte Anselm vor bis auf die Kante seines Stuhls, strich mit der einen Hand über das aufgeschlagene Textbuch, ließ die andere einen Kreis in die Luft malen. »Ja, Andres«, las er, leise und so, als suche er nach dem richtigen Tonfall, »den Streif da über das Gras hin, da rollt abends der Kopf, es hob ihn einmal einer auf, er meint’, es wär’ ein Igel.«
    Anselm war Woyzeck. »Er ist noch ein bisschen jung für die Rolle«, hatte Frank gestern Abend gesagt, und Heike wollte das nicht glauben, schließlich sei Anselm schon Mitte dreißig und Woyzeck wohl kaum älter, im Gegenteil. Er meine das auch mehr in geistiger Hinsicht, hatte Frank entgegnet, und Claudia hatte sich gefragt, was denn mit Anselm in geistiger Hinsicht wohl nicht in Ordnung sei, hatte sich aber nicht getraut, Frank danach zu fragen.
    »Andres, das waren die Freimaurer«, las Anselm weiter, »ich hab’s, die Freimaurer, still!«
    So lasen sie das ganze Stück, mal laut, mal vorsichtig Wort für Wort, doch nach und nach wurden alle mutiger und vor allem alberner. Warfen sich die Sätze zu wie kleine Pfeile, manchmal leicht wie Papierflieger oder im Mund zerkaute feuchte Papierkügelchen, ab und zu schwer wie große Steine. Anfangs hatte Claudia noch mitgelesen, so wie Heike es tat. Nach den ersten Szenen hatte sie einen Blick auf Frank geworfen. Der las nicht mit. Stumm bewegten sich seine Lippen, während seine Augen denjenigen fixierten, der gerade sprach. Ab und zu lächelte er, meistens, wenn Woyzeck dran war. Offensichtlich war Anselm sein Liebling, das war Claudia bereits am Abend zuvor während der Vorstellung aufgefallen.
    Sie ließ ihr Textbuch auf die Knie sinken und beobachtete den Kreis der Schauspieler. Alle lasen. Und zwischen ihnen wurden kleine Fäden gespannt, als würfen sie einander ein Wollknäuel zu, jeder dem nächsten und dieser wieder weiter. Glatt wie Glas war die Luft über diesem Netz und ebenso scharf, und am Ende hatte sie sich allen auf die Gesichter gelegt. Nur Frank war noch genauso bleich wie zu Beginn der Leseprobe.
    »Gut«, sagte er in die Stille hinein, die seit dem letzten Wort die Probebühne erfüllt hatte, und er meinte das auch so, »für heute bin ich rundum zufrieden.«
    Er sah einen nach dem anderen an und dann, zum ersten Mal, auf sein Textbuch. Anselm raunte seinem Nachbarn etwas zu. Der lachte. Die Schauspielerin, die die Marie spielte, stand auf. Ihr Kollege, im Stück der Andres, wollte sich ebenfalls erheben, blieb dann aber doch sitzen und sah die anderen unsicher an.
    »Darf ich die Leute heimschicken?«, fragte Heike Frank leise.
    »Einen Augenblick noch«, bat er. Die Marie setzte sich wieder hin. Aus dem verwirrten Warten heraus fühlte Claudia sich beobachtet. Die neue Hospitantin. Von der Uni. Ob sie was draufhat? Ob sie Mut hat, Power, Potenzial? Ein Talent? Ob sie eine ist, die das Theater verändern wird? Vielleicht dachten sie das auch nicht, aber Claudia glaubte all diese Fragen in der messerscharfen Luft zu lesen. Oder schon die Antworten: die wird nie Regisseurin, der fällt garantiert nichts ein, sieht nicht aus wie ein Theatermensch, eine Studentin eben, Theoretikerin. Ob Anselm so von ihr dachte? Sie sah ihn an und traf seinen Blick. Und wie von selbst bewegte sich ihre rechte Hand an den Mund, und ihre Finger berührten die Lippen, ohne dass sie Anselm dabei aus dem Blick ließ. Sie wusste selbst nicht, was sie ihm damit signalisieren wollte. Er sah sie fragend an. Lange. Sie verbuchte das als

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