Alle auf Anfang - Roman
die Finsternis und läuft, läuft hinaus in die leere Welt. Und sie will ihm nachlaufen, doch ihre Füße kleben fest. Sie kann sie nicht vom Boden lösen. Und draußen in der Welt sieht sie ihr kleines Mädchen fallen, es fällt und fällt und sinkt ein in den Boden und versinkt darin, bis nur noch die Händchen da sind, die nach ihr greifen wollen, und auch diese versinken langsam, ganz langsam.
Eine tiefe Stimme drängt sich in ihren Kopf. »Ich muss nach der Kleinen sehen.« Ja, bitte, will sie sagen, will den Sprecher ansehen. Doch sie bekommt die Augen nicht auf, die Lider sind tonnenschwer. Hinter den Lidern schimmert es rot. Ist das Blut? Die Tonnengewichte lösen sich. Das Rot wird dunkler, ein breiter Strich. Eine Stange. Ein Bettgestell.
»Da sind Sie ja«, sagt eine Frauenstimme neben ihr. Sie versucht, den Kopf zu drehen. Eine weiße, verschwommene Gestalt ist da an ihrer Seite und hält ihren Arm. In diesem Arm steckt ein Schlauch.
»Sie haben geschlafen«, sagt die weiße verschwommene Frau. »Sie hatten einen Unfall. Aber wir sorgen hier für Sie.«
Anselm und Jasper irgendwo mitten in Deutschland
Haben gerade eine Raststätte betreten. Anselm hat jegliches Zeitgefühl verloren. War das gestern, als ihm an einer anderen Raststätte der Kellner erzählt hat, dass er dieses Land hier so großartig findet, oder ist das schon länger her? Als ihm der Junge über den Weg gelaufen ist? Das einzige, was Anselm mit Sicherheit weiß, ist, dass es immer noch nicht hell wird. Als ob diese Nacht nie enden würde.
Jasper ist vorne bei den Zeitschriften stehen geblieben und blättert gerade ein Heft durch. Anselm stellt sich an die Cappuccinobar, wo zwei dicke bärtige Männer schon auf Barhockern beim Kaffee sitzen. »Latte Macchiato«, bestellt Anselm und sieht sich um. Es ist eine dieser großen Raststätten, die wie eine Markthalle wirken und an verschiedenen Ständen und Büffets Gerichte anbieten. Erstaunlich viele Menschen machen hier gerade Pause und essen bereits Schnitzel mit Pommes oder Salate mit Shrimps oder Oliven.
Gerade, als der Barrista Anselm das Glas hinstellt, steht Jasper neben ihm.
»Magst du was trinken?«, fragt Anselm. Der Junge schüttelt den Kopf, und Anselm fängt einen kurzen Blick des einen Bärtigen auf. Wahrscheinlich hält man uns hier für Vater und Sohn, denkt er und ist sich nicht mehr so sicher, ob ihn das wirklich stören würde. Stören würde ihn vielmehr, für einen Freier mit Stricher gehalten zu werden. Vorsichtig schaut er nochmal auf den Bärtigen, doch der ist mit seinem Kaffee beschäftigt.
»Kann ich hier ins Internet?«, fragt Jasper den Barrista. Der deutet auf einen Computerbildschirm in der Ecke. »Geht im Zehn-Minuten-Takt«, erklärt er, »abgerechnet wird nachher bei mir.«
»Darf ich mit?«, fragt Anselm. Jasper zögert kurz, dann nickt er. Zusammen steuern sie auf den Bildschirm zu, der auf einem Bord steht, ein Barhocker davor. Jasper setzt sich und loggt sich ein. Mit dem Kaffeeglas in der Hand bleibt Anselm neben ihm stehen. Und vergisst zu trinken. So fremd ist das, was er da auf dem Bildschirm zu sehen bekommt. Figuren in Menschengestalt und mit Fratzen anstelle von Gesichtern bewegen sich eckig durch grell gezeichnete Räume. Eine der Figuren führt Jasper mit dem Cursor in ungeheurem Tempo an den anderen vorbei, lässt sie Treppen hinaufrasen, Türen aufstoßen, um Ecken biegen und wieder treppab laufen.
»Bist du das?«, fragt Anselm, doch er bekommt keine Antwort. Immer wieder tritt die Figur vor andere, die sie anschauen und sich dann abwenden.
»Suchst du jemanden?«
»Die anderen«, stößt Jasper knapp aus. Er klickt die Menüleiste an. Eine ganze Reihe von Fenstern öffnet sich. Jasper flucht leise. »Klappt’s nicht?«, fragt Anselm und merkt sofort, wie unpassend das klingt. »Minuspunkte«, sagt Jasper und klickt weitere Fenster an, immer schneller, immer wütender. Einmal taucht eine weiße Clownsmaske auf und füllt den Bildschirm aus, ehe sie zerplatzt. Dann wieder drehen alle Spielfiguren dem Betrachter den Rücken zu und marschieren auf eine weit geöffnete Tür im Bildhintergrund zu.
»Scheiße«, sagt Jasper knapp. Er versucht, seine Figur zu bewegen, will sie den anderen folgen lassen. Doch die Figur rührt sich nicht. Nervös schiebt Jasper die Maus über das Bord, klickt abwechselnd beide Tasten an. »Sie sind alle schon unterwegs«, sagt er, »irgendwo da draußen.«
»Mit ihren Masken?«, fragt Anselm. Jasper
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