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Alle auf Anfang - Roman

Alle auf Anfang - Roman

Titel: Alle auf Anfang - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Zaplin
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Die Werte sind zu schlecht.«
    Claudia sieht die alte Frau, die am Fenster liegt, telefonieren. Weiße Haare stehen ihr vom Kopf ab. Das Gesicht ist grau und die Augen sehen verweint aus. Ich will hier nicht sein, denkt Claudia.
»So ein schön fester grauer Himmel …«
    Seit drei Tagen war Heike schon krank. »Dann musst eben du bei mir am Regiepult sitzen und auf der Generalprobe die Kritik mitschreiben«, hatte Frank gesagt. Und so saß Claudia neben dem Regisseur im dunklen, fast leeren Theatersaal. Auf Franks anderer Seite hatte der Beleuchtungsmeister Platz genommen, zwei Reihen vor ihnen der Bühnenbildner, der aber immer wieder aufsprang und auf die Bühne lief, um noch irgendetwas zu richten. Hinter ihnen im Dunkel saßen die Dramaturgen und ein paar Kollegen aus dem Ensemble, die heute selber keine Probe hatten.
    Am Regiepult war eine kleine Lampe angebracht, die Frank vor Beginn der Generalprobe eingeschaltet hatte. Es war eine halbe Stunde später als geplant losgegangen, die Schauspieler waren in Morgenmänteln, die Haare mit dünnen Stirnbändern aus dem Gesicht zurückgehalten, aufgeregt durch die Garderobengänge gelaufen, in der Maske war es zu Engpässen gekommen, und auch die Ankleider hatten ihre Schwierigkeiten gehabt, die Kostüme in der richtigen Reihenfolge bereitzuhalten. Doch schließlich hatte der Inspizient aus der Nullgasse heraus Frank das ersehnte Zeichen gegeben, und der hatte die Pultlampe angeschaltet. Musik. Licht. Freies Feld. Woyzeck und Andres.
    Immer wieder beugte Frank sich zu Claudia herüber und flüsterte ihr eine Anmerkung zum Geschehen auf der Bühne zu. Claudia notierte alles. Seite um Seite schrieb sie voll. Sie kannte das Stück längst auswendig, wusste, welche Gedanken und Empfindungen der Figuren Frank auf der Bühne sichtbar werden lassen wollte. Die vergangenen acht Wochen waren die aufregendsten ihres bisherigen Lebens gewesen. Sie hatte erlebt, wie Anna auf der Suche nach einem Geheimnis in Käthes aufgedrehter Wildheit sich daran erinnerte, wie sehr sie als Kind den Geruch ihres Vaters gehasst hatte und darüber in Tränen ausgebrochen war. Sie war Zeugin einer kurzen, heftigen Affäre zwischen Bernd und Christine, die die Marie spielte, geworden und hatte zusehen können, wie Christine anschließend ihre Marie nach den kleinen Wunden formte, die sie davongetragen hatte. Und ihr war offenbar geworden, dass man, um sich in aller Öffentlichkeit auszuziehen, kein einziges Stück nackte Haut zu zeigen brauchte. So konnte sie jetzt mühelos Franks leise Stichworte entschlüsseln und hatte einmal mehr das Gefühl, der menschlichen Wahrheit auf der Spur zu sein.
    Anselm spielte fahrig und ein bisschen zu selbstverliebt. »Als ob er alles vergessen hätte«, fluchte Frank. »Schreib auf, Claudia: Woyzeck sucht, sucht, sucht. Der soll heute Abend mal nichts als Wasser oder Fencheltee trinken und beizeiten ins Bett. Und zwar allein.«
    Den zweiten Satz schrieb Claudia nicht mit. Auch sie hatte noch viermal bei Anselm die Nacht verbracht, aber in den letzten zehn Tagen hatte sie kaum Gelegenheit gehabt, ihn ohne die anderen zu sprechen. Worauf spielte Frank an? Mit wem war Anselm ins Bett gegangen? Fast hätte sie die beiden nächsten Punkte, die Frank ihr zum Mitschreiben zuraunte, überhört. Ihr war heiß geworden, in ihren Ohren rauschte es. Schon nächste Woche begann das Semester, und sie wusste noch immer nicht, ob sie aus Bielefeld als Anselms Freundin abreisen würde.
    »Und: Black«, sagte Frank, nachdem das letzte Wort gefallen war. Die Bühne fiel in tiefes Schwarz. Vorn an der Rampe flackerten Neonröhren auf, und Frank drückte Claudia ein Blatt in die Hand.
    »Wir üben jetzt sofort noch die Applausordnung!«, rief er dem Inspizienten zu, »die sollen alle dableiben. Danach: Abschminken und Kritik im Foyer.«
    Er sprang auf und ging vor in die erste Reihe. Claudia folgte ihm. »Lies vor«, bat er sie, und sie las die Namen der Schauspieler. Nach und nach traten sie vor, taten so, als verbeugten sie sich. Abgekämpft sahen sie aus. Claudia bemerkte tiefe Schatten unter Anselms Augen, die nicht allein von der inzwischen verlaufenen Schminke zu stammen schienen. Was hatte er nach der Probe gestern Abend gemacht? Die Abende davor? Wieder rauschte es in ihren Ohren.
    Sie probten die Applausordnung drei-, viermal. »In einer Viertelstunde sehen wir uns im Foyer«, verlangte Frank schließlich. Auch er sah jetzt müde aus. Sofort waren die Schauspieler in der

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