Alle auf Anfang - Roman
stößt sie aus, greift sich wieder an den Kopf, kommt zurück auf die Füße. »Wir brauchen einen Krankenwagen!«, ruft der andere Polizist aus dem Wohnzimmer herüber. Sein Kollege sieht Alma fragend an. »Er … er hat …«, stammelt Alma, »ich musste …«
»Schon gut.« Der Beamte reicht ihr einen Arm. »Beruhigen Sie sich erst mal. Wo darf ich Sie hinbringen?«
In Almas Kopf dreht sich alles. Am liebsten hätte sie sich ins Bett bringen lassen, zudecken, so, wie sie es früher immer mit Jasper getan hat. Der Polizist sieht sie an, bedauernd, wie ihr scheint. Sie schluckt den letzten Rest der Halsbonbons hinunter. Umsichtig geleitet er sie an der offenen Wohnzimmertür vorbei in die Küche. Es riecht nach frischem Kuchen. Ist dies nicht einfach der Beginn eines normalen Tages? Ist sie auf dem Weg, verrückt zu werden? Mit großen Augen betrachtet der Polizist das Blech auf der Arbeitsplatte. »Mein Sohn kommt später heim«, bemüht Alma sich zu erklären, »ich hatte den Kuchen gebacken, als der Mann …«
Was soll sie, was darf sie sagen? Aus dem Wohnzimmer hören sie den anderen Polizisten telefonieren. »Kannten Sie ihn?«, fragt der Kollege Alma. Sie nickt. »Er hat mir früher den Garten gemacht. Aber jetzt habe ich ihn schon lange nicht mehr gesehen. Bis er …«
»Bis er heute wieder auftauchte?«
»Ja.«
Sie setzt sich auf einen Küchenstuhl und stützt die Arme auf den kleinen Tisch. »Er war an der Autobahn. Er ist über die Leitplanke gestiegen und einfach quer über die Fahrbahn gelaufen. Ein Auto kam, genau in diesem Moment. Die Fahrerin muss ihn gesehen haben. Sie hat das Lenkrad verrissen. Sie ist gegen den Brückenpfeiler gefahren.«
Jetzt setzt sich der Polizist auch. »Das war der Einsatz heute Nacht«, sagt er, »was haben Sie denn dort gemacht?«
Alma richtet den Blick starr auf ihre Hände. Die Sätze sind einfach so aus ihr herausgesprudelt. Sie hat das nicht vorgehabt, es gehörte nicht zu ihrem Plan. Es war genau das, was sie gesehen hat.
»Ich war spazieren«, sagt sie, leise und langsam, »ich wohne ja nicht weit.«
Jetzt wird er gleich fragen, ob sie etwas getrunken hat. Nicht immer wirken die Halsbonbons.
»Und dann, nach dem Unfall, hat der Mann Sie bemerkt?«, fragt der Polizist. Alma nickt. Erleichtert. Genauso war es. »Ich bin dann nach Hause gegangen«, sagt sie, »und später stand er plötzlich in meinem Garten. Ich habe ihn hereingelassen, ich kannte ihn ja. Und dann ist er … ist er …«
Sie bricht ab.
»Hat er Sie vergewaltigt?«, fragt der Polizist. Wieder nickt Alma. Es ist alles so einfach, sie muss gar nichts tun, nicht lügen oder etwas erfinden. Wieder klingelt es. Alma schreckt hoch. »Der Kollege hat einen Krankenwagen gerufen«, erklärt der Polizist, »wie haben Sie den Mann denn außer Gefecht gesetzt?«
»Mit … mit einem Medikament.« Alma blickt auf. Bemerkt das Erstaunen im Gesicht des Polizisten. »Ich bin Ärztin«, sagt sie. Und fängt an zu lachen. Stoßweise bricht das Lachen aus ihr heraus.
»Das ist der Schock«, sagt der Polizist, »Sie haben Fürchterliches mitgemacht.«
Das Lachen schüttelt Alma durch und durch. »Haben Sie ein Beruhigungsmittel?«, fragt der Polizist besorgt. Alma nickt und muss nur noch heftiger lachen. Tränen steigen ihr in die Augen. Von draußen sind Stimmen zu hören, schwere Schritte, die Morgenluft weht kühl zu ihnen herüber. »Also können wir Sie allein lassen?«, hakt der Polizist nach. »Ja, ja, ja«, stößt Alma aus.
»Sie sollten jetzt besser nichts mehr trinken.«
Hat er das gesagt? Oder war das nur in ihrem Kopf? Das Rauschen darin überdeckt alles, sie kann schon gar nichts mehr hören. Es schwillt an und an, bis ihr der Kopf zerplatzt und alles durch die Küche fliegt. Doch sie ist eine Zauberin. Sie schnippt mit den Fingern, und alle Einzelteile kehren flugs an ihren Platz zurück. Simsalabim.
Irgendwann ist es still um sie. Sie steht auf und geht hinüber ins Wohnzimmer. Die Notärzte haben erdige Klumpen auf dem Teppich hinterlassen. Alma bückt sich und hebt sie mit bloßen Händen auf. Drüben auf dem Sofa sind die Kissen eingedrückt. Es ist niemand mehr da außer ihr. Und vielleicht ist ja auch niemand je da gewesen. Sie hat das alles selbst gemacht, die Dellen in den Sofakissen, die Erdklumpen. Den Kuchen in der Küche. Sie hat den Joker gesetzt. Für Jasper. Bela ist fort und wird nicht mehr wiederkommen. Kichernd lässt sie die Klumpen aus ihren Händen wieder auf den Boden
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