Alle auf Anfang - Roman
versuchen. »Ja«, hört Anselm sich sagen, »danke, das mache ich.« Er sieht seine Hand den Hörer auflegen, spürt, wie sich der Seewind in seine Haut brennt. Tief Luft holend, verschränkt er die Arme im Nacken und legt den Kopf zurück. Langsam, ganz langsam atmet er aus.
Wo war der Fehler? Dass er vorgeschlagen hatte, noch etwas trinken zu gehen? Dass er ihr nachgefahren ist? Oder damals schon, die Sache mit dem Messer? Noch einmal holt er Luft, will in den Wind schreien: Nein! Nein!, doch es gelingt nicht. Seine Stimme versagt.
Und keinen Laut bekommt er heraus, als er die fünf, sechs Maskierten auf den Anleger zugehen sieht. Fünf-, sechsmal die gleiche weiße Maske mit dem breitgezogenen roten Lachmund darin. Nebeneinander gehen sie auf die Fährbrücke zu, vor der die Absperrung längst zur Seite geschoben ist. Anselm sieht zum Auto hinüber, sieht, dass Jasper steif auf seinem Platz sitzt. So schnell er kann, läuft er zwischen den anderen parkenden Autos hindurch, auf seinen Wagen zu, er klopft an die Scheibe, deutet zum Dampfer, doch Jasper hat die Maskierten längst gesehen. Reglos starrt er sie an. Und noch immer kriegt Anselm kein Wort heraus. Stattdessen öffnet er die Beifahrertür und macht eine einladende Handbewegung. Jasper reagiert nicht. Ein Eisblock, kalt und starr. Also schlägt Anselm die Beifahrertür wieder zu und steigt auf seiner Seite ein. Stumm sehen sie zu, wie die Maskierten an Bord gehen. Und als dann eine gute Viertelstunde später die Fähre ein dumpfes Tuten ausstößt und ablegt, sitzen sie immer noch da und schauen. Schauen, bis das Schiff hinter der Kaimauer allmählich verschwindet.
Go Joker!
Er hätte mit ihnen gehen können. Er hätte seine Maske aufsetzen und mit ihnen zusammen die Fähre nehmen können. Stattdessen ist er sitzen geblieben. Es hat nicht gestimmt.
Come on, Jasper. Go Joker.
Er bleibt sitzen. Ohne Cursor und Maustaste stimmt es nicht.
Come on, Jasper, so nah der Ghost, und du steigst aus? Bloß, weil es Reality ist?
Weil die Wirklichkeit anders ist als ein aufgemaltes Grinsen, tausendmal vervielfältigt. Die Wirklichkeit ist ein Strand bei Ebbe. Der Geruch von Tang.
Er weiß, dass er von nun an ewig hier sitzen könnte.
Aber Anselm lässt den Motor an
Längst stehen die Metallabsperrungen wieder vor dem Anleger. Der Tag ist da, hat seine Reinigungsfahrzeuge geschickt, die ihre kreisrunden Bürstenräder Bahn für Bahn über den Parkplatz schieben. Sie scheuchen Anselms Auto vor sich her und treiben es hinaus auf die Hafenstraße. Im Rückspiegel sieht Anselm sich den Deich vor das Hafenbecken schieben. Der Vorhang fällt. Hinter der nächsten Biegung ist nur noch Land zu sehen. Flache Salzwiesen.
Am Vorgarten der Nachbarin hält ein Bus
Er ist durch das Küchenfenster gut zu sehen. Doch etwas ist falsch an dem Bild. Hier hält sonst kein Bus. Hier ist gar keine Haltestelle. Falsch, dröhnt es durch Urs’ Kopf, und hätte er jetzt einen Edding zur Hand, würde er ein großes rotes X quer über das Fenster malen. Das stimmt nicht!
Doch als wäre es vollkommen richtig so, öffnet sich die Tür des Busses, ganz vorn beim Fahrer. Die Stufe klappt heraus, und über die Stufe hüpft: seine Tochter.
Und Urs versteht immer noch nicht. Erst als die Kleine auf das Nachbarhaus, ihr Haus, zuläuft und der Busfahrer auf der Stufe erscheint, erst da stellt er die Tasse, die er immer noch in der Hand gehalten hat, ab, läuft zur Tür, reißt sie auf und ruft: »Hier! Hier bin ich! Hier!«
Und ist schon beim Bus, dessen Motor noch läuft, und das Kind dreht sich zu ihm um und der Fahrer öffnet den Mund und überhäuft ihn mit einer Ladung lauter, böser Worte, Aufsichtspflicht verletzt, Polizei eigentlich, extra Route verändert, und Urs hält sein Kind fest im Arm und lässt das alles über sich ergehen. Geschieht ihm ja recht. Gibt dem Fahrer seine Karte. Gibt dem Kind einen Kuss auf die Stirn. Der Busmotor läuft immer noch. Es stinkt nach Diesel.
»Sie hören von mir«, sagt der Fahrer.
»Wo warst du?«, fragt das Kind.
Der Fahrer steigt ein. Die Tür zischt zu. Das Brummen des Motors wird lauter. Zusammen mit dem Kind sieht er zu, wie der vollkommen leere Bus losfährt, um die Ecke biegt, fort ist.
»Wo warst du?«, fragt das Kind wütend. Er geht vor der Kleinen in die Knie, hält ihre Hände fest. Sie schüttelt ihn ab. Er erkennt ihr Gesicht nicht wieder. Etwas hat sich verändert darin. Wir haben eine kleine Maus versteckt, steht über der
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