Alle auf Anfang - Roman
abstürzte, verschwand. Und als ein Flughafenmitarbeiter freundlich an seine Frontscheibe klopft und ihm bedeutet, er möge den Platz räumen, lässt Anselm den Wagen langsam wegrollen.
Und jetzt? Müdigkeit hat sich hinter seiner Stirn eingenistet und schmerzt über den Augen. Um nichts in der Welt ist er in der Lage, jetzt nach München zurückzufahren. Die nächste Vorstellung ist erst am Wochenende, Proben hat er ohnehin keine zur Zeit. Er könnte einfach zurück ans Meer fahren, sich in den Sand setzen und den Fähren zusehen, wie sie hinüber zur Insel fahren. Oder mitfahren. Einen Sommertag auf der Insel nehmen, eine kleine, knapp bemessene Freiheit. Die er sich eigentlich gar nicht leisten kann. Er steuert den Kurzzeitparkplatz an und steigt aus. Will ein paar Schritte gehen, einen Kaffee trinken. Im Auto zwei Stunden schlafen, dann die Rückfahrt antreten. Das könnte ein Plan sein.
In der Abflughalle ertappt er sich dabei, nach Jasper Ausschau zu halten. Der Junge ist nirgends zu entdecken. Er sollte froh sein. Er ist es nicht. Er will kein Solospieler mehr sein. Im erstbesten Coffeeshop ist ein Einzeltisch frei – eine Einladung, die Anselm dankbar annimmt. Er lässt sich Cappuccino und ein Sandwich bringen und streckt die Beine aus. Spielt den unbeteiligten Beobachter, bedient sich des Rührlöffels als dankbaren Requisits. Es ist nur eine Geste, die prickelnde Leichtigkeit der Nacht ist verflogen. Im Kopf das Gefühl von durchzechten Stunden ohne bleibendes Glück. Alles ist schwer, die Knochen, die Tasse und vor allem die Frage, ob er Claudia anrufen soll. Er versucht, sie sich in einem Klinikbett vorzustellen. Malt sich aus, wie sie den Telefonhörer abhebt. Was er sagen soll. Wie geht es dir verbietet sich ebenso wie ein als Frage vollkommen sinnloses Wie konnte das passieren. Die Tatsache, dass es passierte, ist die einzig ehrliche Antwort. Und außerdem weiß er ja, wie es passiert ist, weiß mehr, als Claudia ahnt. Tausend Kilometer und ein halber Liter Kaffee liegen zwischen dem »Sehe ich dich wieder« und einem möglichen Telefonanruf von Airporthalle zu Klinikbett. Wenn er sie wenigstens sehen könnte, während er ihr erzählt, was er weiß. Er könnte in ihrem Gesicht lesen, wie viel er preisgeben darf. Oder drückt er sich jetzt? Ist er womöglich nur rücksichtsvoll gegenüber der psychischen Verfassung einer Schwerverletzten? Will er sich überhaupt eine verletzte Claudia vorstellen?
Eigentlich will er jetzt nur schlafen, sonst gar nichts. Er verschränkt die Arme vor der Brust und merkt schon nicht mehr, wie ihm die Augen zufallen.
Es duftet nach frisch gebackenem Kuchen
Alma nimmt ein weißes papiernes Tortendeckchen aus der Hülle und breitet es auf einer runden Kuchenplatte aus. Sie nimmt zwei Topflappen und greift mit beiden Händen nach dem Ofenblech, um es herauszuholen.
Es klingelt. Fast wäre ihr das Blech aus den Händen gefallen. Sie schließt kurz die Augen, um sich zu sammeln. Stellt das Blech mit dem warmen Kuchen darauf auf die Arbeitsplatte, legt die Topflappen beiseite und greift sich ins Haar. Greift nach der Dose mit den scharfen Halsbonbons, steckt zwei in den Mund. Auf dem Weg zur Haustür wirft sie einen Blick ins Wohnzimmer. Bela liegt auf dem Sofa und scheint zu schlafen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich, in sehr kurzen Abständen, wie sie feststellt. Sie unterdrückt den Reflex, ihm den Puls zu fühlen, was soll sie auch machen, sie muss zur Tür, der Fahrplan läuft. Durch die schmale Glasscheibe in der Haustür sieht sie einen Mann in Polizeiuniform. Etwas fährt ihr wie ein Stoß durch den Körper, die Knie werden weich. Alles läuft nach Plan, versucht sie sich zu beruhigen, da sind sie, um Bela abzuholen. Trotzdem wird ihr jetzt schwarz vor Augen. Glaubt sie, diesen Moment zu kennen. Wir haben Ihren Sohn gefunden, wird der Polizist sagen, es tut uns leid. Sie öffnet die Tür.
»Frau Doktor Lund?«, fragt der Polizist.
Sie nickt.
»Sie haben uns angerufen?«
Sie nickt wieder.
»Wo ist der Mann, der Sie überfallen hat?«
Kraftlos deutet sie hinter sich. Spürt, dass sie sich nicht mehr lange auf den Beinen halten kann. Dass sie vornüber kippt. Der Polizist fängt sie auf. »Alles in Ordnung«, sagt er, »wir sind ja da.«
Erst jetzt bemerkt sie den zweiten Uniformierten, der mit großen Schritten an ihr vorbei ins Wohnzimmer geht.
»Brauchen Sie einen Arzt?«, fragt der erste. Sie schüttelt den Kopf. Fängt sich wieder. »Ich bin Ärztin«,
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