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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Ohneruh, einige wenige verletzen oder töten jemanden, und viele verhindern, dass dies öfter geschieht, manche sind gut, manche sind schlecht, manche sind überempfindlich und manche weinerlich, manche sind großzügig und manche sehr habsüchtig, manche sind gesellig und manche unbequem, manche werfen Steine auf Katzen, und manche pflegen die Kranken; es sind Menschen wie alle anderen, Monsieur van Gogh.
    Ich sehe ihn noch vor mir, diesen Wallfahrtszug.
    Diese Ansammlung von leeren, verlorenen und wütenden Blicken. Mancher kann sich kaum auf den Beinen halten, und mancher schreitet stolz einher, einige klammern sich an einen anderen, und manche drängeln, hier stellt einer einem anderen ein Bein, dort brabbelt jemand Gebete, und mancher wird in der Kirche nicht niederknien, weil er nicht um ein Wunder bittet, sondern um eine Entschädigung.
    Sie alle gehen zum Altar, alle zum selben Gott, alle zur selben Gnade.

    »Hier bin ich, hier!«, rief ich, als ich Sie in der Ferne erblickte. Vor Kurzem war ein Unwetter hereingebrochen, plötzlich und prasselnd, doch der gelb-violette Himmel klarte schon wieder auf.
    »Du kommst viel zu spät«, antworteten Sie schlecht gelaunt. Sie saßen hinter der Kirche, in der Nähe des Friedhofs unter einer Eiche zwischen zwei schmutziggelben, mit Zweigen übersäten Pfützen, in denen sich der Himmel spiegelte.
    »Madame Vanheim hat mich ausgefragt, bevor sie mir glaubte, dass ich zu Icarus gehe«, sagte ich lächelnd. »Entschuldigen Sie, aber ich konnte mich nicht eher loseisen.«
    »Hättest du ihr nicht sagen können, dass du mit mir unterwegs bist? An diesem merkwürdigen Ort sehe ich viele Kinder, die ältere Leute an der Hand spazieren führen. Auf einen mehr oder weniger kommt es da nicht an.«
    »Und wer wäre dann das Kind?«, entgegnete ich beleidigt.
    »Na ja, ich verstehe ja deine Sorge. Kein Mensch kann mir über den Weg trauen.«
    »Warum sagen Sie das?«
    »Ich bin nicht gerade ein vertrauenerweckender Typ. Als ich jünger war, konnte man mich für einen gebildeten Mann halten, doch heute sehe ich aus wie ein Fährmann oder ein Schmied. Oder wie ein Taugenichts.«
    »Reden Sie doch nicht solchen Unsinn!«
    »In letzter Zeit bin ich wohl nachlässig geworden. Mit meiner Körperpflege. Madame Vanheim wird nicht wollen, dass du mit einem Vagabunden herumziehst!«, sagten Sie, um mich zu ärgern.
    »Nein, es ist nur so, dass ein Mann und eine Frau ...«
    Wir kamen an die Nete, die in der Nähe von Geel fließt. »Hier kann man Hechte fangen.« Wir schlenderten weiter. Der Frühling würde nicht auf sich warten lassen. Sie hatten meinen Vorschlag akzeptiert, und so wanderten wir ziellos durch das Kempenland. Fernab von allen Blicken.
    »Ich bin einer, mit dem man sich nicht abgeben sollte. Ein impulsiver Charakter, einer, der seinen Leidenschaften nachgibt. Der sich nicht unter Kontrolle hat.«
    Ich ließ Sie reden. Dabei redeten Sie, ehrlich gesagt, nicht viel. Sie wägten Ihre Worte ab. In Ihren Briefen ergoss sich ein Strom, ungestüm und unaufhaltsam. Doch wenn Sie redeten, waren Sie wie ein ausgetrockneter Fluss.
    »Jedes Kohlblatt ist mehr wert als ich.«
    Als ich Sie anschaute, war mir, als überlagerten sich die Zeilen, die ich in Ihrem Zimmer in jenem Brief gefunden hatte, auf Ihrem Gesicht. Einer, der so schreibt, kann doch nicht bloß ein Vagabund ohne Zukunft sein. Oder sind das nur weibliche Fantasien, über die ihr Männer so herzlich lachen könnt, und Sie glauben diesen Sätzen gar nicht, haben ihnen nie geglaubt? Mir hätte es gefallen, die Frau zu sein, die Sie suchten, die Frau, mit der Sie sich ein Nest bauen wollten. Ich war eifersüchtig auf Ursula und auf Kee.
    »Reisen Sie viel, Monsieur?«
    »Ich war schon überall. In England, in Frankreich, in Belgien und in Holland. Ich habe alles Mögliche verkauft: Bücher, Hefte, Bibeln. Doch nirgends fand ich ein Zuhause. Eine Heimat.«
    »Und wie müsste die Heimat sein, die Sie suchen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Vielleicht ist sie ja hier«, redete ich weiter.
    »Dein Dorf ist mir unheimlich. Hier könnte ich niemals leben. Als ich klein war, drohte mein Vater damit, mich hierher zu schicken. Er hielt mich für überspannt und verabscheute die Käfersammlung, die ich in meinem Zimmer hatte. Aber die Landschaft hier gefällt mir. Sie erinnert mich an den Ort, wo ich geboren bin.« Sie atmeten tief ein und betrachteten das Schwarz der regennassen Baumstämme, ein nahezu goldenes Stück Moos und den

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